Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien in Canettis "Die Blendung"
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Elias Canettis Die Blendung wird traditionell als nicht-psychologischen Roman angesehen. Der Verfasser versucht, aus den detailreichen Gedankenwiedergaben der Romanpersonen den psychologischen Wert des Werkes herauszufinden. Im Fall des Protagonisten Peter Kien reichen die Indizien sogar hin, eine vollständige Krankengeschichte zu rekonstruieren. Ziel der Dissertation ist die Seelenanalyse jeweils von Peter und Georg Kien und die Interaktion der Brüder, die eine innige Bindung zueinander haben und im Spannungsverhältnis der latenten Kraftprobe stehen. Im Theorierahmen der Individualpsychologie Alfred Adlers wird die ätiologische Untersuchung dieser brüderlichen Ambivalenz ermöglicht. Peter Kiens Organminderwertigkeit, sein Augendefekt, der in der Titelangabe sowie in den Textdetails angedeutet wird, aktiviert seine nervöse Disposition, die in ihm einen Minderwertigkeitskomplex bezüglich der vermeintlichen Körperschwäche bildet. Aus dem objektiven Augendefekt entsteht eine stärkere Wissbegierde, die durch die subjektive, negative Einstellung des Ich und die Angst vor zwischenmenschlichen Kontakten Peter in einer isolierten Miniwelt der so genannten „Wissenschaft“ verschließt und ihm die normale Teilnahme am realen Leben verhindert. Der psychische Mechanismus der Überwindung des Unsicherheitsgefühls treibt Peter dazu, sich als absoluter Machthaber sowohl in der Einbildung als auch in der Umgebung zu etablieren und durch diesen Machtzwang ein solides, erstarrtes Selbstbild des „Gelehrten“, das seine Lebensgrundlage sichern soll, zu entwickeln. Die Erkennung dieses krankhaften Machtstrebens als eine im negativen Sinne verstandene Überkompensation für das strukturell bedingte Minderwertigkeitsgefühl bringt ein neues Licht in das Verständnis der „wissenschaftlichen Tätigkeit“ des Sinologen, der von manchen Interpreten als Inkarnation der Geistigkeit und Intellektualität gedeutet wurde. Georgs psychischer Zustand lässt sich durch Adlers Theorie der Geburtsabfolge erklären. Als das zweite, und zwar weniger geliebte Kind in der Familie muss er aus dem Schatten des großen Bruders heraustreten, als das Liebes- und Machtobjekt der Frauen muss er sich von der weiblichen Dominanz befreien. Den Aufschluss über die Möglichkeit der Unabhängigkeit sieht er im Gorilla-Menschen, durch den er von Gynäkologie zur Psychiatrie übergeht und damit sein Selbstbewusstsein gewinnt. In der Psychiatrie-Karriere befriedigt er sein privates Bedürfnis nach einem kompensatorischen Machtgefühl und zugleich auch die Forderungen des realen Lebens, durch die sich das Individuum in die Gemeinschaft integriert. Das Autodafé Peters, der in der Außenwelt erniedrigt und beleidigt wird, wird vom Verfasser als Rache an dem erfolgreichen Georg, dessen Hilfe der Restauration Peters von diesem als Triumph in der brüderlichen Konkurrenz empfunden wird, interpretiert.