Milchhof, Nürnberg
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Als im Jahr 1931 der Milchhof in Nürnberg seiner Bestimmung übergeben wurde, seinerzeit die größte Anlage ihrer Art in Europa, war nach übereinstimmendem Tenor der Architekturkritik dem Architekten Otto Ernst Schweizer ein Werk gelungen, dem wegen der raffiniert- einfachen Grundrißordnung und einer architektonischen Formensprache jenseits allzu individuellen Eigenlebens der Rang eines Prototyps zukommt. Schweizer (1890–1965) hatte schon zuvor internationale Anerkennung erfahren durch sein Planetarium und seine Stadionanlage in Nürnberg: klar und unprätentiös gestaltete Bauten von dauerhaftem Wert. Sein wohl bekanntestes Werk neben den Bauten in Nürnberg ist das gleichzeitig mit dem Milchhof entstandene Stadion in Wien. Zusätzlich zu seiner praktischen Tätigkeit wirkte Schweizer dreißig Jahre als einer der großen Lehrer und Forscher an der Architekturfakultät der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Die meisten seiner wesentlichen Bauten sind verloren oder entstellt. Der Milchhof aber steht nahezu unverändert (wenn auch weitgehend ungenutzt) und bildet noch immer, wie von Schweizer geplant, eine Art Point de vue für den Zugang der Stadt von Westen. Das Verwaltungsgebäude ist als Dreiflügelanlage konzipiert; die Flügel umfangen eine drei Geschosse hohe, lichtdurchflutete Halle mit offenen Galerien als Erschließungsebenen – Raumverschwendung im besten Sinne, die zudem jede Art der Büronutzung zuläßt. Das Betriebsgebäude, das noch heute von der Bahn aus über das Obergeschoß und von der das Gebäude umfahrenden Straße auf Erdgeschoßebene bedient werden kann, ist ein über 110 m langer und im Mittel 24 m tiefer Trakt, der sein einprägsames 'Gesicht' durch das trapezförmige Falt-Dachtragwerk und das Stahlbetonskelett mit Glas- und (ehemaliger) Backsteinausfachung erhält und dessen Geschoßebenen Schweizers Grundforderung nach größtmöglicher Variabilität dadurch entsprechen, daß sich alle Einbauten und Zwischenwände nichttragend unterzuordnen hatten – eine flexible Struktur, die sich heute für eine Umnutzung erneut bewähren könnte. Immo Boyken ist Professor für Baugeschichte und Architekturtheorie in Konstanz. Sein besonderes Interesse gilt der Architektur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Er war maßgebend an der 1984 erschienenen Monographie über Egon Eiermann beteiligt, verfaßte neben anderen Schriften zur modernen Architektur die Monographie über Otto Ernst Schweizer und schrieb zuletzt über Heinz Tesars Kirche Christus Hoffnung der Welt in der Donau City in Wien (Opus 42) und über Egon Eiermanns Botschaftsgebäude in Washington (Opus 54).