Mein lieber Rudolf
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Gretel Baum-Meróm Zur Geschichte der Elternbriefe Die hier veröffentlichen Briefe haben eine Geschichte, über die ich kurz berichten möchte. Meine Eltern hatten diese Briefe an meinen Bruder Rudolf (Rudy) geschrieben, der mit 21 Jahren im November 1936 nach Amerika emigrierte. Mein Bruder hat diese Briefe aufgehoben, und da niemand weder in seiner noch in meiner Familie Deutsch lesen oder schreiben kann, beschloss er mit meiner Zustimmung, die Originale dem Leo Baeck Institut in New York zu schenken. Die Mitglieder unserer Familie erhielten je eine Kopie dieser Briefe. Diese Briefe haben jahrelang ungelesen in meinem Bücherschrank gelegen. Ich hatte einfach Angst, die Vergangenheit wieder durchleben zu mussen, ich hatte Angst vor meinem Schuldgefühl, dass ich meinen Eltern nicht helfen konnte und mein Bruder und ich sie ihrem schrecklichen Schicksal überlassen mussten. Beide waren wir Neueinwanderer in neuen Ländern Palästina und USA, und es fehlten uns einfach jegliche Mittel, um unseren Eltern ein Visum oder Zertifikat zu verschaffen. Ich wollte diese Vergangenheit ruhen lassen, aber wie so oft im Leben wollte es das Schicksal anders. Als mein Bruder am 29. Marz 2009 plötzlich verstarb, drängte es mich, diese Briefe endlich zu lesen. Ich bin die einzige der ursprünglichen Familie, die noch lebt und die einzige in der überlebenden Familie, die der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig ist. Beim Lesen dieser Briefe wurde mir klar, dass außer mir niemand aus unserer Familie die handgeschriebenen Briefe lesen kann und niemand außer mir die darin genannten Personen und Orte kennt. Deshalb sah ich es als Matriarch der Familie als meine vornehmste Aufgabe und sogar Pflicht, diese Briefe vor dem Vergessen zu bewahren. Ich habe viele Stunden und Tage gearbeitet, um die zum Teil verblasste Handschrift der Briefe zu entziffern und alles eigenhändig abzuschreiben. Dabei bin ich mir sicher, auch im Sinne meines Bruders gehandelt zu haben, der stolz auf mich wäre, wenn er es noch erlebt hätte, – so stolz wie er war, als er kurz vor seinem Tod mit der Vormittagspost mein Buch „Ich erinnere – I remember“ (Konstanz 2009) erhielt. Er hat es noch am selben Tag gelesen und mich noch am selben Abend angerufen, um mir zu sagen, wie sehr ihn die Lektüre erfreute! Die Korrespondenz meiner Eltern mit meinem Bruder Rudolf begann mit seiner Auswanderung im November 1936, als er sich auf der „Beringia“ von London nach New York eingeschifft hatte. Der Brief meiner Mutter vom 17. November 1936 erreichte meinen Bruder noch vor Abfahrt des Schiffes ….