Der Weg ins Dritte Reich
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Andrea Hammel Erfahrung und Erinnerung Auszug aus der ausführlichen Einleitung Selma Kahn, geborene Gottlieb, wurde am 23. Oktober 1888 in Berlichingen (im nördlichen Baden-Württemberg) geboren und starb am 20. Februar 1982 in Neustadt an der Weinstraße. Aus diesen Fakten könnte man auf einen geographisch, kulturell und sozial gradlinigen Lebenslauf schließen, doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Das Leben von Selma Kahn und ihrer Familie war, wie das Tausender anderer deutscher Juden, geprägt von sozialem Ausschluß, Emigration und kulturellen Veränderungen, die alle durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Gang gesetzt worden waren. Der Weg ins Dritte Reich beinhaltet Aspekte didaktischer Literatur, er ist ein sogenannter Deutschlandroman, der die Außenwelt über die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland aufklären will. Selma Kahn schafft es, die sozialpsychologische Entwicklung der provinziellen Durchschnittsbürger, deren Mitläufertum und die aufkommende Massenhysterie sehr hautnah darzustellen. Sie benutzt den Dialog als stilistisches Mittel, um die Gedankengänge der Protagonisten darzustellen, die oft weniger mit Politik als mit Eigennutz zu tun haben. Der Weg ins Dritte Reich zeigt deutlich, wie sich NS-Ideologie im provinziellen Leben breitmacht. Sowohl der Einfluß außenstehender Agitatoren als auch die Verbreitung der Propaganda zwischen verschiedenen Mitgliedern der Gemeinde werden deutlich. Dieser provinzielle Rahmen macht den Roman zu einer seltenen Quelle, denn die Mehrheit der Deutschland-Romane spielt im urbanen Milieu. Selma Kahn ist viel daran gelegen, die Position assimilierter gläubiger Juden darzustellen, die große Stücke auf die deutsche Kultur und die deutsche öffentliche Ordnung hielten. Dies führt zu einem stellenweise sehr überschwenglichen nationalistischen Diskurs, der auf den heutigen Leser befremdlich wirkt. Doch muß man sich die Lage von Familien wie der Kahns vor Augen halten: Die rapide Verschlechterung ihrer sozialen und ökonomischen Integration muß auf sie wie ein böser Traum gewirkt haben, den man zu erklären versuchte. Selma Kahn's Werk ist ausschließlich in deutscher Sprache. Besonders ihr frühes Werk ist von umgangssprachlicher Ausdrucksweise und der südfränkischen Mundart geprägt. Die Tatsache, daß der Autor und Freund Franz Kafkas, Max Brod, die Sprache des Romans Der Weg ins Dritte Reich kommentierte, zeigt, daß Kahn die Texte wahrscheinlich doch verschiedenen Verlegern und Experten vorgelegt haben muß. Max Brod schrieb: „Das Buch ist gerade stilistisch besonders gut. Es dürfte nicht ins Buch-Deutsch geglättet werden, sondern müßte seine dialektische Eigenart, seine Provinzialismen, die noch nicht im Schriftdeutsch rezipiert sind, durchwegs behalten.“ University of Sussex, Centre for German-Jewish Studies,