Lewis Carroll
27. Januar 1832 – 14. Januar 1898
Auch bekannt als: Lewis Carroll
Lewis Carroll (* 27. Januar 1832 in Daresbury im County Cheshire; † 14. Januar 1898 in Guildford im County Surrey; eigentlich Charles Lutwidge Dodgson) war ein britischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters, Fotograf, Mathematiker und Diakon.
Er ist der Autor der berühmten Kinderbücher Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln (oder Alice im Spiegelland) und The Hunting of the Snark. Mit seiner Befähigung für Wortspiel, Logik und Fantasie schaffte er es, weite Leserkreise zu fesseln. Seine Werke, als sogenannte Nonsense-Literatur bezeichnet, sind bis heute populär geblieben und haben nicht nur die Kinderliteratur, sondern ebenso Schriftsteller wie James Joyce, die Surrealisten wie André Breton und den Maler und Bildhauer Max Ernst oder den Kognitionswissenschaftler Douglas R. Hofstadter sowie den Musiker und Komponisten John Lennon beeinflusst. Bekannt wurde Carroll auch als Fotograf: Wie Julia Margaret Cameron und Oscar Gustave Rejlander betrieb er bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Fotografie als Kunst. Dodgson alias Carroll stammte aus einer nordenglischen Familie mit irischen Verbindungen – konservativ, anglikanisch, obere Mittelklasse –, deren Mitglieder die für ihre Klasse typischen Berufe in Armee und Kirche wählten. Sein Urgroßvater, der wie sein Großvater und sein Vater ebenfalls Charles hieß, war in der anglikanischen Gemeinschaft bis zum Bischof aufgestiegen. Sein Großvater starb im Dezember 1803 als Hauptmann der britischen Armee (4. Dragoon Guards) im Einsatz, als seine beiden Söhne noch Kleinkinder waren. Er war in Irland stationiert und wurde aus dem Hinterhalt erschossen, als er sich nachts mit einem irischen Rebellen treffen wollte, der behauptet hatte, sich ergeben zu wollen. Der ältere seiner beiden Söhne, der 1800 geborene Charles Dodgson, der Vater von Lewis Carroll, wandte sich der anderen Familientradition zu und schlug die geistliche Laufbahn ein. Er ging zur Westminster School, danach auf die University of Oxford. Er war hervorragend in Mathematik und in den klassischen Sprachen; er graduierte summa cum laude, wurde Dozent (Lecturer) in Mathematik an der Universität Oxford sowie Fellow seines Colleges und erfuhr die Diakonweihe. Das hätte der Auftakt zu einer herausragenden Karriere sein können; für ein höheres Amt hätte er zölibatär leben müssen. Er heiratete jedoch 1827 seine Cousine Frances Jane Lutwidge (1803–1851), woraufhin er sich in die Unauffälligkeit einer Landpfarrstelle zurückzog.Einer der Lieblingsonkel von Lewis Carroll, Robert Wilfred Skeffington Lutwidge (1802–73), ein Bruder seiner Mutter, war Inspektor der britischen Asyle für Geisteskranke (Lunacy Commissioner) und starb, als ein Patient ihm einen selbst gefertigten Nagel in den Kopf stach. Charles Lutwidge Dodgson wurde 1832 in dem kleinen Pfarrhaus von Daresbury in Cheshire geboren, er war der älteste Sohn und das dritte Kind. Weitere acht Kinder folgten, und alle (sieben Mädchen und vier Jungen) überlebten bis zum Erwachsenenalter, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Als Charles elf Jahre alt war, bekam sein Vater die Pfarrstelle in Croft-on-Tees in North Yorkshire, und die ganze Familie zog in das geräumige Pfarrhaus ein, das für die nächsten 25 Jahre ihr Zuhause blieb. Dodgson senior machte unterdessen eine gewisse Karriere innerhalb der Kirche: Er publizierte einige Predigten, übersetzte Tertullian, wurde Erzdiakon der Kathedrale in Ripon und mischte sich, manchmal einflussreich, in die intensiven religiösen Streitigkeiten ein, die die anglikanische Gemeinschaft spalteten. Er gehörte der anglikanischen High Church an, war ein Bewunderer von John Henry Newman und der Oxford-Bewegung und versuchte, diese Ansichten seinen Kindern zu vermitteln.Charles junior ging in den ersten Jahren nicht zur Schule, sondern wurde bis zu seinem elften Lebensjahr zu Hause unterrichtet. Seine Leseliste wurde in der Familie überliefert und ist Beweis für seinen herausragenden Intellekt: Mit sieben Jahren las er beispielsweise The Pilgrim’s Progress von John Bunyan. Sein erster Biograf, der Neffe Stuart Dodgson Collingwood, berichtete, sein Onkel sei schon als Dreikäsehoch mit der Bitte zu seinem Vater gegangen, ihm die Formeln einer Logarithmentafel zu erläutern, und habe nach dem Hinweis, dafür sei er noch zu jung, insistiert: „Aber, bitte erkläre es mir!“ Seine Beziehung zum Vater wurde als nüchtern und sachlich beschrieben, während seine Mutter ihn, der lange Zeit der einzige Sohn war, liebevoll und bevorzugt umsorgt habe. Charles erfand als Elfjähriger ein „Eisenbahnspiel“, inspiriert durch die neue, revolutionäre technische Erfindung der Eisenbahn, die er in seiner Nachbarschaft in Darlington erlebte. Das Spiel mit seinen Geschwistern vollzog sich nach genau festgelegten Regeln, die er mit sarkastischem Humor aufgeschrieben hat und die schon den späteren Lewis Carroll durchblicken lassen. Außerdem verfasste er Theaterstücke für ein Marionettentheater wie die Tragödie von King John oder die Oper La Guida di Bragia, in denen er für sich und seine Geschwister die weite Welt in die Mauern des Pfarrhauses holte. Hier wird bereits die doppelte Welt sichtbar, die sein Leben bestimmen wird: die Inszenierung, die genauen Regeln unterliegt, und die unbeherrschbare Welt draußen. Mit zwölf Jahren wurde er im Jahr 1844 auf eine kleine Privatschule im nahegelegenen Richmond geschickt, wo er bereits durch seine mathematische Begabung auffiel. In dieser Zeit verfasste er in lateinischer Sprache Gedichte, denen sich englischsprachige Erzählungen anschlossen. Der Schulleiter, James Tate, bescheinigte ihm ein außergewöhnliches Maß an Genie, gab dem Vater jedoch den Rat, seinen Sohn diese Überlegenheit nicht wissen zu lassen, er solle sie selber nach und nach erfahren. An dieser mangelnden Bestätigung hat Carroll zeit seines Lebens gelitten, und sie könnte eine Ursache für sein Stottern, sein mangelndes Selbstbewusstsein und seine Identitätskrise sein.Ein Jahr später wechselte Charles jedoch zur Rugby School in Rugby, in eine der bekanntesten Privatschulen Englands, wo er offensichtlich weniger glücklich war. Zehn Jahre später, nachdem er die Schule verlassen hatte, schrieb er über seinen Aufenthalt im Tagebuch: Während der Zeit an der ungeliebten Schule, die bekannt war für ihr auf Disziplinierung bedachtes System, begann Charles, sich intensiv mit Literatur zu beschäftigen, indem er beispielsweise David Copperfield von Charles Dickens las und Geschichtsbücher über die Französische Revolution studierte. Seine mit Zeichnungen versehenen literarischen Versuche veröffentlichte er im Schulmagazin und in verschiedenen Familienmagazinen seiner Familie. Im Dezember 1849 ging er, wiederum mit großem Lob von der Schulleitung versehen, von der Rugby School ab, um sich im Jahr 1850 an der Universität von Oxford zu immatrikulieren. Der junge Erwachsene Charles Dodgson war etwa 1,80 m groß, schlank, hatte lockiges braunes Haar und blaue Augen. Im Alter von 17 Jahren hatte er an einer schwerwiegenden Infektion mit Keuchhusten gelitten, die Folge war eine Schwerhörigkeit des rechten Ohrs. Die einzige ernsthafte Behinderung jedoch war das, was er als seine „Unsicherheit“ bezeichnete, ein Stottern, das ihn bereits seit früher Kindheit belastete und das ihn sein ganzes restliches Leben plagte. Das Stottern war immer ein bedeutender Teil der Mythen, die sich um Lewis Carroll gebildet haben. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise behauptet, dass er nur in der Gesellschaft von Erwachsenen stotterte, in der Gegenwart von Kindern jedoch frei und flüssig sprach. Es gibt keine Belege für diese Behauptung; viele Kinder aus seinem Bekanntenkreis erinnerten sich an sein Stottern, vielen Erwachsenen ist es nicht aufgefallen. Obwohl ihn das Stottern störte, war es nie so schlimm, dass er seine Fähigkeit zum Umgang mit seinen Mitmenschen verloren hätte. Dodgson besuchte ab Mai 1850 das College seines Vaters, Christ Church, wo er die Fächer Mathematik, Theologie und klassische Literatur belegte. Er war gerade zwei Tage in Oxford, als er nach Hause zurückgerufen wurde. Seine Mutter war im Alter von 47 Jahren an „Hirnentzündung“ (vermutlich einer Meningitis oder einem Schlaganfall) gestorben. Als er nach Oxford zurückkehrte, fiel ihm das Lernen leicht; im folgenden Jahr schloss er das Grundstudium mit Bestnote ab, und ein alter Freund seines Vaters, der Kanoniker Edward Pusey, schlug ihn für ein Stipendium vor, das ihm das Hauptstudium ermöglichte. Dodgsons frühe akademische Laufbahn schwankte zwischen hohen Ambitionen und mangelnder Konzentration. Im Jahr 1854 bereitete er sich außerdem auf die Priesterweihe vor. Ein regionales Blatt, die Whitby Gazette in Yorkshire, veröffentlichte um diese Zeit einige seiner Gedichte. Durch Faulheit verfehlte er ein wichtiges Stipendium, aber aufgrund seiner Brillanz als Mathematiker wurde er nach Abschluss des Studiums 1854 im Jahr 1855 als Tutor für Mathematik im Christ Church eingestellt; diese Position sollte er die nächsten 26 Jahre ausfüllen. Er erzielte als Tutor ein gutes Einkommen, doch die Arbeit langweilte ihn. Viele seiner Schüler waren dumm, älter als er, reicher als er, und vor allem waren sie völlig desinteressiert. Sie wollten von ihm nichts lernen, er wollte sie nichts lehren, beidseitige Apathie bestimmte den täglichen Umgang. Sein Dichtername Lewis Carroll, der ihn berühmt machen sollte, erschien 1856 erstmals im Zusammenhang mit einem romantischen Gedicht, Solitude, in der Zeitung The Train, in der einige seiner Parodien, einschließlich Upon the Lonely Moor, veröffentlicht wurden. Edmund Yates, der Verleger des Blattes The Train, brachte ihn auf die Idee. Dieses Pseudonym leitet sich von seinem Realnamen her: Lewis ist die anglisierte Form von Ludovicus, der latinisierten Form für Lutwidge, und Carroll ist die anglisierte Form von Carolus, dem lateinischen Namen für Charles.Die Fotografie wurde in den 1830er Jahren erfunden, sie stand aber den Amateurfotografen bis zu den 1850er Jahren nicht zur Verfügung; zu dieser Zeit wurde durch die Entwicklung der Kollodium-Nassplatte das fotografische Verfahren erleichtert. Im März des Jahres 1856 erwarb Carroll in London eine neue Kamera mit den dazugehörigen chemischen Materialien zum Preis von 15 Pfund, damals eine hohe Summe. In den neuen technischen Errungenschaften, für die er stets Interesse zeigte, beeinflussten ihn sein Onkel Skeffington Lutwidge, den er schon in seiner Kindheit besucht hatte, sowie sein Freund aus Oxford, Reginald Southey, mit dem er die ersten fotografischen Versuche unternahm. Trotz der ausdünstenden chemischen Lösungsmittel entwickelte Carroll die Fotos in einer Ecke seines Zimmers. 1868 bekam er ein größeres Studio im Christ Church und errichtete darüber ein eigenes Atelier, das jedoch erst im Jahr 1871 fertiggestellt wurde. Von diesem Zeitpunkt an hatte er eine fotografische Ausstattung, die gemäß der Zeit professionell war.Carrolls bekanntestes Motiv war Alice Liddell, die Tochter des Dekans von Christ Church, Henry George Liddell. Er hatte sie im Jahr 1856 durch das Fenster seines Arbeitsplatzes erblickt, als sie mit ihren Schwestern im Garten des Dekanats spielte. Im April des Jahres machte er den Versuch, von diesem Garten aus die Kirche zu fotografieren, was wegen der ungünstigen Lichtverhältnisse fehlschlug. Carroll lernte bei dieser Gelegenheit die Geschwister kennen und freundete sich mit ihnen an. Im Jahr 1857 erwarb er den Magister-Grad (MA) und lernte Alfred Tennyson, John Ruskin und William Makepeace Thackeray kennen, die er später fotografisch porträtieren sollte. Er hatte Verbindungen zu den Präraffaeliten, so knüpfte er Freundschaft mit Dante Gabriel Rossetti und seiner Familie und traf unter anderem William Holman Hunt, John Everett Millais und Arthur Hughes.Als Carroll auf der Isle of Wight Urlaub machte, begegnete er der Fotografin Julia Margaret Cameron, die ebenfalls bekannt war für Porträts bekannter Persönlichkeiten. Ebenso wie Carroll war sie beeinflusst von den Motiven präraffaelitischer Malerei. 1861 wurde er zum Diakon geweiht, das Priesteramt musste er nicht mehr antreten, was ihm recht war, da er befürchtete, beim Predigen ins Stottern zu geraten; so hat er in seinem Leben nur wenige Predigten gehalten. Am 4. Juli 1862 unternahm Carroll mit seinem Freund Robinson Duckworth und den drei Schwestern Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell einen Bootsausflug auf der Themse und erzählte eine Geschichte. Als Alice Liddell den Wunsch äußerte, er möge die Geschichte aufschreiben, entstand die Inspiration zu seinem weltberühmt gewordenen Kinderbuch Alice im Wunderland. Im Februar 1863 hatte Carroll das Manuskript von Alice im Wunderland abgeschlossen. Es waren 90 Seiten in seiner peniblen kleinen Handschrift geworden, die zahlreiche Leerstellen aufwiesen, in die Carroll persönlich angefertigte Illustrationen einfügen wollte. Es dauerte noch einmal fast zwei Jahre, bis er die handschriftliche Urfassung mit dem Titel Alice’s Adventures Under Ground fertiggestellt hatte und sie mit der Widmung „Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“ im November 1864 Alice Pleasance Liddell übergab. Die eigenen Zeichnungen hatten zwar ihren Reiz, doch die laienhafte Ausführung war nicht für eine gedruckte Ausgabe geeignet, die Carroll inzwischen als Möglichkeit nicht ausschließen wollte. Alice im Wunderland (Originalmanuskript der Urfassung aus dem Jahr 1864)
Die Freundschaft zwischen der Familie Liddell und Carroll zerbrach im Juni 1863. Über die Ursachen gibt es nur Spekulationen, da die entsprechenden Tagebücher aus dieser Zeit verschollen sind und Carrolls Briefe an Alice von ihrer Mutter vernichtet wurden. Die Spekulationen reichen von seiner angeblichen Verliebtheit in Alice und dem Wunsch, sie zu heiraten, bis hin zu Vermutungen, dass sich eine Liebesbeziehung zu Alice’ ältester Schwester Ina angebahnt habe. Weitere Erklärungen finden sich im Rezeptionsteil zur Geschichte der Tagebücher. In Hastings lernte er den schottischen Schriftsteller George MacDonald kennen – es war die begeisterte Aufnahme seiner Alice durch die jungen MacDonald-Kinder, die ihn von der Publikation des Werkes endgültig überzeugte. Der Verlag Macmillan nahm das inzwischen stark erweiterte Manuskript im Jahr 1863 zur Veröffentlichung an. Das Buch erschien im Jahr 1865, erst unter dem Namen Alice’s Adventures Under Ground und dann nach Erweiterungen als Alice’s Adventures in Wonderland mit Illustrationen des namhaften Zeichners John Tenniel. Das Buch fand gleich nach seinem Erscheinen großen Anklang und viele begeisterte Leser. Dazu gehörten unter anderem der junge Schriftsteller Oscar Wilde und Königin Victoria. Wie bekannt, stotterte Carroll, so dass er sich gelegentlich mit „Do-Do-Dodgson“ vorstellte. Es gibt daher Vermutungen, dass sich Carroll mit der Figur des Vogels Dodo in seinem ersten Werk selbst porträtieren wollte. Der echte Dodo ist ein längst ausgestorbener Vogel, den Alice im Universitätsmuseum von Oxford zum ersten Mal sah und der gegenwärtig dort noch ausgestellt ist.Im Jahr 1886 trat Carroll nach langer Zeit wieder in Kontakt zu Alice Liddell, inzwischen verheiratete Hargreaves, und bat sie um Erlaubnis, von seinem Originalmanuskript eine Faksimile-Ausgabe herstellen zu lassen. Diese erschien Ende des Jahres in einer Auflage von 5000 Exemplaren; in den 1980er Jahren gab es einen erneuten Reprint. 30 Jahre nach dem Tod Carrolls gab Alice Hargreaves im Jahr 1928 das Originalmanuskript mit den eigenhändigen Zeichnungen zum Verkauf frei. Es erzielte hohe Preise und gelangte erst im Jahr 1946 durch eine Initiative der amerikanischen Nationalbibliothek (Library of Congress) und bibliophiler Anhänger wieder nach England. Die Amerikaner sahen die Übergabe „als kleines Zeichen der Anerkennung, dass die Engländer Hitler in Schach gehalten haben, während wir uns erst noch auf den Krieg vorbereiteten“. Es ist im „Manuscript Room“ des Britischen Museums in London ausgestellt. Von Juni bis September des Jahres 1867 führte ihn eine Reise nach Russland, und er begann, am Manuskript Through the Looking-Glass (Alice hinter den Spiegeln) zu arbeiten, einer Fortsetzung der erfolgreichen Alice im Wunderland. Im selben Jahr wurde Brunos Rache veröffentlicht, später sollte es ein Teil von Sylvie & Bruno werden. 1868 starb Carrolls Vater, die Familie musste daher aus dem Pfarrhaus in Croft ausziehen. Carroll war nun neues Familienoberhaupt und suchte für seine unverheirateten Schwestern eine neue Bleibe. Er fand nach vielen Bemühungen „The Chestnut“, ein Haus in Guildford in der Grafschaft Surrey, das zum neuen Familienwohnsitz werden sollte. Der Tod des Vaters ließ ihn mehrere Jahre in Depressionen verfallen. Es erschien seine erste mathematische Veröffentlichung unter dem Titel The Fifth Book of Euclid. Seine zweite wissenschaftliche Veröffentlichung erschien 1879 als Euclid and his Modern Rivals. Im Jahr 1869 wurde der Titel Phantasmagoria and Other Poems, in dem mehrere Gedichte zusammengefasst worden waren, in kleiner Auflage veröffentlicht. Für Alice hinter den Spiegeln aus dem Jahr 1871 schrieb Carroll einzelne Geschichten, Fabeln oder Gedichte im Gegensatz zu seinem ersten Buch, das aus einer fortlaufenden Erzählung bestand. Trotz einiger Schwierigkeiten, die sich bei der ersten Veröffentlichung ergeben hatten, verpflichtete er wiederum John Tenniel als Illustrator. Den Anstoß für das Buch gab erneut ein Mädchen namens Alice. Carroll traf Alice Raikes im August 1868 im Haus ihres Onkels in London und führte sie beim gemeinsamen Spiel vor einen Spiegel. Er gab ihr eine Apfelsine in die rechte Hand und fragte, in welcher Hand Alice’ Spiegelbild die Apfelsine halte. „In der linken“ war die Antwort. Carrolls Frage nach einer Lösung beantwortete das Mädchen wie folgt: „Wenn ich auf der anderen Seite des Spiegels wäre, wäre dann die Apfelsine nicht immer noch in meiner rechten Hand?“ Diese Episode schmückte Carroll weiter aus und formte sie zu der Geschichte von Alice hinter den Spiegeln. Aus seiner Familienzeitung Mischmasch entnahm er für die Ausgabe das Nonsensgedicht Jabberwocky (in Christian Enzensbergers Übersetzung heißt es Der Zipferlake), das mit dem ersten Vers in Spiegelschrift beginnt; diese Schreibweise war ursprünglich für das gesamte Buch vorgesehen. Der erste Vers von Jabberwocky:Twas brillig, and the slithy toves / Did gyre and gimble in the wabe; / All mimsy were the borogoves, / And the mome raths outgrabe. Verdaustig wars, und glasse Wieben / Rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elump war der Pluckerwank, /Und die gabben Schweisel frieben. (Übersetzung Christian Enzensberger)Besonders bekannt in Alice hinter den Spiegeln sind als Figuren ebenfalls das Ei auf der Mauer, genannt Humpty Dumpty, die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum und die darin auftretende Rote Königin, die der neugierigen Alice erklärt: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Im Jahr 1876 wurde Carrols drittes großes Werk veröffentlicht, The Hunting of the Snark (Die Jagd nach dem Schnark), eine fantastische Nonsens-Ballade. Die Illustrationen schuf Henry Holiday. Das Gedicht handelt von einer seltsamen Jagdexpedition, die sich mit Sorgfalt, Hoffnung und einer völlig leeren Meereskarte aufmacht, ein mysteriöses Wesen namens Snark zu fangen. Darin wird unter anderem die interessante Ansicht geäußert, etwas stimme, wenn es dreimal gesagt wird. Der Snark vereinigt in sich außergewöhnliche Eigenschaften. So ist er praktisch beim Anzünden von Lichtern, hat die Gewohnheit, erst am Nachmittag aufzustehen, versteht keinen Scherz und liebt Badekarren. Der präraffaelitische Maler Dante Gabriel Rossetti soll geglaubt haben, das Gedicht stehe mit ihm in Verbindung. Im englischen Sprachraum ist es legendär, in Deutschland ist das Gedicht jedoch weniger bekannt. Dennoch gibt es mehrere deutsche Übersetzungen der „Agonie in acht Krämpfen“, so der Untertitel, darunter Die Jagd nach dem Schnark von Klaus Reichert sowie als Reclam-Ausgabe Die Jagd nach dem Schnatz. Die Jagd nach dem Schnark wurde außerdem in etlichen Varianten für die Bühne und als Musical adaptiert, beispielsweise von Mike Batt im Jahr 1987. Michael Ende übersetzte das Gedicht für die darauf basierende Oper des Komponisten Wilfried Hiller, die am 16. Januar 1988 im Prinzregententheater in München unter dem Titel Die Jagd nach dem Schlarg uraufgeführt wurde. Carroll gehörte zu den Schriftstellern, die im Gegensatz zu anderen Kollegen bereits zu Lebzeiten sehr bekannt und wohlhabend wurden. 1880 beendete er allerdings abrupt seine erfolgreiche fotografische Arbeit. Die Hintergründe sind nie ganz geklärt worden. Vermutungen beziehen sich jedoch unter anderem auf zunehmende Probleme mit den Eltern der kleinen Mädchen, die er unbekleidet fotografieren wollte. Carroll war fasziniert von jungen Mädchen, die meistens fünf bis sechs Jahre alt waren, wenn er sie fotografierte; sie mussten in ihrer Ausstrahlung Lebendigkeit, Unschuld und Schönheit ausdrücken. Die englische Malerin Gertrude Thomson, die ihm ab 1878/79 gelegentlich junge weibliche Modelle vermittelte und bei seinen Fototerminen anwesend war, beschrieb die Requisiten wie Kostüme, mechanische Bären und Kaninchen in seinem Studio und erinnerte sich an die gemeinsam vergnüglich verbrachten Stunden. Sie erinnerte sich an die Treffen mit Carroll: „Wie sein Lachen klang – wie das eines Kindes!“ Mit ihm gemeinsam hatte sie die Vorliebe für Feen und Nymphen, die auf ihren Bildern ebenfalls nackt erschienen.Seine Tätigkeit als Tutor führte er bis zum Jahr 1881 am Christ Church College fort; eine Tätigkeit als Kurator schloss sich bis zum Jahr 1892 an. Das Studio im College blieb in der folgenden Zeit weiterhin sein Wohnsitz, da der Lehrkörper des College generell ein Wohnrecht auf Lebenszeit hatte. Carrolls einziger Roman, Sylvie und Bruno, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hatte, wurde in zwei Bänden in den Jahren 1889 und 1893 veröffentlicht. Die Illustrationen stammen von Harry Furniss. Anders als in den Alice-Büchern treffen hier Kinder und Erwachsene aufeinander, und erstmals in seinem Werk taucht eine männliche Hauptfigur auf. Im Gegensatz zu seinen verspielten ersten Erzählungen ist der Roman von strengen moralischen Regeln bestimmt, und die Ebenen von Realität und Fantasie sind im Gegensatz zu seinen früheren Werken klar erkennbar. Eine Gemeinsamkeit stellt die Suche nach der Identität dar. Verschiedene Interpreten haben die Parallelen zu den Konflikten der Romanfiguren und denen des Autors hervorgehoben. Beispielsweise sind neben der Identitätssuche die Bedeutung des Vaters, der sonst in keinem Werk Carrolls eine Rolle gespielt hat, die Überlegenheit der beiden älteren Schwestern, seine Technikgläubigkeit sowie eine gewisse Wissenschaftskritik ein Thema. Diesem Werk blieb der überragende Erfolg seiner Vorgänger versagt, vermutlich wegen der eklatanten Unterschiede zu seinen früheren fantastischen Werken. Der Anglist Klaus Reichert sieht in Sylvie und Bruno den Wunsch Carrolls, „sich als identisch mit sich selbst zu sehen“. In seinen letzten Lebensjahren dachte Carroll schon oft an den Tod. Kurz vor Weihnachten des Jahres 1897 fuhr er wie jedes Jahr zu seinen Schwestern nach Guildford. Er war erkältet, wie so oft, da er in seinen Räumen am Christ Church College an Heizung sparte. Um die Jahreswende verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Am frühen Nachmittag des 14. Januar 1898 starb Lewis Carroll an den Folgen einer Lungenentzündung im Haus der Schwestern, „The Chestnuts“. Unter den Trauergästen war die Malerin Gertrude Thomson, mit der er zeitweilig zusammengearbeitet hatte. Lewis Carrolls Grabsockel auf dem Mount Cemetery, dem Friedhof von Guildford, trägt neben der Inschrift „Rev. Charles Lutwidge Dodgson“ in Klammern darunter den Zusatz „(Lewis Carroll)“ – ein Zeugnis für sein Doppelleben, das ihn bis in den Tod begleitet hat.