Falsche Bewegung
Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften
Franco Moretti ist ein italienischer Literaturwissenschaftler, der den Roman als „planetarische Form“ analysiert. Seine Arbeit zeichnet sich durch einen innovativen Ansatz aus, der quantitative Methoden aus den Sozialwissenschaften in die Geisteswissenschaften integriert und traditionelle literaturwissenschaftliche Studien herausfordert. Morettis Forschung prägt unser Verständnis des globalen Romans und untersucht seine Entwicklung und Wirkung über Kulturen und Epochen hinweg.
Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften
Szenen amerikanischer Kultur
Es ist faszinierend, wie eine Reihe quantitativer Messungen in einen Dialog mit Begriffen tritt und diese allmählich verändert. Allmählich. Vergessen Sie den Hype um die Computerisierung, die angeblich alles schneller macht. Ja, Daten können mit unglaublicher Geschwindigkeit erhoben und analysiert werden; doch die Erklärung dieser Ergebnisse - es sei denn, Sie geben sich mit der erstbesten Plattitüde zufrieden, die Ihnen einfällt - ist etwas ganz anderes; hier hilft nur Geduld.
In den USA wird an einem neuen Kapitel der Literaturgeschichte geschrieben. Unter der Leitung von Franco Moretti arbeitet das Stanford Literary Lab an Methoden, die unseren Umgang mit Texten revolutionieren. Gegründet wurde das Stanford Literary Lab im Jahr 2010. Es versteht sich als Forschungskollektiv, das experimentiert. Allerdings nicht an Gegenständen der Natur, sondern an solchen der Kultur, von denen man nach wie vor annimmt, dass ihre zentralen Merkmale sich weder in den Versuchsanordnungen der Naturwissenschaft reproduzieren noch durch statistische Verfahren erfassen lassen. Dennoch geht es dem Stanford Literary Lab genau darum, die Rechenkapazität des Computers mit den offenen Fragen der Literaturkritik zu verbinden, die Geschichte der Literatur mithilfe digitaler Ressourcen zu untersuchen und neu zu schreiben. Die Gruppe von Forschern um Franco Moretti hat sich zunächst daran versucht, die Komplexität der traditionellen Formen der Literaturkritik in die Sprache der Informatik zu übersetzen. Um die grossen Erzählungen über die Entstehung und die Entwicklung des modernen Romans oder des europäischen Theaters auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, wurden riesige Korpora von Texten erfasst und analysiert, die viel zu gross sind, als dass ein einzelner Gelehrter sie sich aneignen könnte, wie belesen er auch sein mag. Die Computer sollten so einige der Versprechen einer Makrolektüre einlösen, die Franco Moretti seit den späten 1990er Jahren unter dem Schlagwort des>>distant reading< >close reading<<gewendet hatte. Im Zuge der Experimente des Stanford Literary Lab hat sich der Stand der technologischen Innovationen laufend verändert. (Quelle: www.buch.ch)
Eine Schlüsselfigur der Moderne
Die industrielle Revolution hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie hat alle »altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen« aufgelöst, alles »Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige« entweiht, konstatieren Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest«. Die Protagonisten dieser Umwälzung sind die Bürger, die Kaufleute und Industriekapitäne. Die Figur des Bourgeois hat nicht nur Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter fasziniert, sie spielt auch eine Hauptrolle in den großen Werken der Weltliteratur: bei Defoe und Goethe, Balzac und Dickens, bei Thomas Mann und Henrik Ibsen. Franco Moretti rekonstruiert die Mentalität dieser Ära durch das Fenster Literatur: Warum hört Robinson Crusoe auch dann nicht auf zu arbeiten, als sein Überleben auf der paradiesischen Insel längst gesichert ist? Was verraten Ton, Schlüsselwörter und Grammatik der großen Romane des 19. Jahrhunderts über den Geist des Kapitalismus? Und was haben uns die Stücke Ibsens heute, das heißt in unseren postbürgerlichen Zeiten, noch zu sagen, in denen die Wachstumsideologie ebenso hinterfragt wird wie die Integrität von Bankern, Beratern und Analysten?
Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte
Man könne auch als Literaturwissenschaftler durchaus über Bücher reden, ohne jemals eines gelesen zu haben – mit solch provokanten Thesen bringt Franco Moretti seit Jahren die internationale Literaturtheorie durcheinander. In seinem neuen Buch demonstriert Moretti, der ob seiner innovativen Verve bereits mit Umberto Eco verglichen wird, wie eine »abstrakte Literaturwissenschaft« aussehen könnte: Anstatt sich mit einzelnen kanonischen Texten auseinanderzusetzen, kartographiert er die Landschaft englischer Dorfgeschichten oder erprobt die Anwendbarkeit evolutionstheoretischer Konzepte auf die Entwicklung des Detektivromans.