Mit Geschwistern verbindet man die Vorstellung von tiefer Verbundenheit, aber auch von Rivalität. Sie sind in Mythologie und Märchen, in Biografien, Romanen und Filmen allgegenwärtig. In erstaunlichem Kontrast zur täglichen Lebenserfahrung und zur kulturellen Gewichtung wurden Geschwisterbeziehungen bis in die 1980er Jahre beinahe vollständig aus dem psychoanalytischen Diskurs ausgeblendet oder auf ein negatives Potenzial reduziert. Diesem Desiderat setzt Hans Sohni eine psychoanalytische Entwicklungspsychologie lebendiger Geschwisterbeziehungen entgegen und bezieht familientheoretische, Entwicklungs- und präventive Ansätze ein. Er fasst den Geschwisterstatus als eigenständige Lebenserfahrung, beleuchtet dessen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und untersucht die Dynamik von Abgrenzung und Bezogenheit. Sohni zeigt auf, welche Möglichkeiten die Berücksichtigung der Thematik in verschiedenen Therapiesettings bietet.
Hans Sohni Bücher




Geschwisterlichkeit
- 128 Seiten
- 5 Lesestunden
Geschwister leben in einer Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Ähnlichkeit, Nähe, Gleichheit auf der einen Seite und dem Wunsch nach Einmaligkeit, Abgrenzung und Eigenständigkeit auf der anderen Seite. In der Psychoanalyse führte die einseitige Furcht vor geschwisterlicher Rivalität zur Ausblendung der geschwisterlichen Psychodynamik aus dem Diskurs. Gesellschaftlich wurde das revolutionäre Ideal der Brüderlichkeit korrumpiert (Faschismus und andere totalitäre Systeme), und auch der schwesterliche Solidaritätsanspruch der Frauenbewegung ist vorerst gescheitert. In diesem Band wird die zentrale Bedeutung horizontaler Beziehungen bei familiendynamischen Prozessen, in Institutionen, in der Gesellschaft sowie in der psychoanalytischen Praxis herausgearbeitet. Geschwisterlichkeit will geübt sein, sie entsteht nicht allein über ein theoretisches Verständnis. Der Anstoß zur Anwendung dieser Perspektive kann auf persönlicher und auf professioneller Ebene eine oft überraschende horizontale Kompetenz freisetzen.
Unser heutiges Verständnis von menschlicher Persönlichkeit und Identität ist intersubjektiv. Neue Beziehungs- und Familientheorien ermöglichen es, Geschwisterbeziehungen in ihrer Komplexität zu begreifen. Die Psychodynamik dieser Beziehungen umfasst die individuelle Entwicklung des Kindes, die Familie als interpersonale Einheit sowie das Zusammenspiel zwischen Eltern und Kindern und unter Geschwistern. Geschwister erleben Kooperation und Gegenseitigkeit, üben von klein auf soziales Verhalten und erwerben Fähigkeiten zur Solidarität sowie zur Anerkennung von Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit. Interfamiliäre Beziehungsstörungen betreffen nicht nur ein Kind, sondern auch die Geschwisterbeziehung. In der Paar- und Familientherapie sowie in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen stellt die Geschwisterperspektive eine Herausforderung dar, da eine therapeutische Haltung der Gleichwertigkeit zwischen Patienten und Therapeuten erforderlich ist. Dies eröffnet die Möglichkeit, geschwisterliche Ressourcen in der Therapie zu nutzen. Auch Gruppen können mit diesem Potenzial arbeiten. Bei der Bearbeitung biografischer Geschwisterbeziehungen entstehen neue Erfahrungen. Die Geschwistertherapie wird als Setting vorgestellt, in dem erwachsene Geschwister gemeinsam an der Emanzipation ihrer Beziehung arbeiten. Zahlreiche Fallbeispiele bereichern diese spannende, bislang vernachlässigte Thematik.