Nahostfriede ohne Demokratie
Der Vertrag von Lausanne und die Geburt der Türkei 1923






Der Vertrag von Lausanne und die Geburt der Türkei 1923
Das Schweizerische ZGB in der Türkei
1926 übernahm die neu gegründete Republik Türkei fast wörtlich das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht. 'Rechtsrevolution' nannten dies die Reformer um Kemal Atatürk, was auch international als tiefer Einschnitt rezipiert wurde. Denn das Familienrecht hatte im späten Osmanischen Reich den noch am stärksten von der islamischen Scharia geprägten Teil des Rechts gebildet. Die Erfahrungen der Türkei stellen ein bedeutsames 'Langzeitexperiment' mit einem transkulturellen Rechtsregime dar: eine säkulare Organisation der Justiz und des Rechtswesens in einer Gesellschaft, die von islamischen Normen geprägt ist. Weist das Experiment darauf hin, dass sich theologisch verwurzeltes und kulturell tradiertes islamisches Rechtsempfinden mit moderner europäischer Gesetzgebung sehr wohl in Einklang bringen lässt? Ist die Scharia somit historische Hülse für Rechtsgüter, die sich in säkularen Gesetzen wie dem ZGB aufheben lassen? Könnte umgekehrt säkulares Rechtsgut in ein Scharia-basiertes Rechtssystem integriert werden? Trifft dies zu, ist transkulturelle, transreligiöse Verbindlichkeit erreichbar und die oft zitierte Kluft zwischen koranischer Offenbarung und Moderne überbrückbar.
Die Schweiz war vom späten 19. Jahrhundert an ein 'Treibhaus' für einflussreiche politische Utopien: In den gleichen Quartieren wohnten und an denselben Universitäten studierten spätere Baumeister des osteuropäischen Sozialismus, der Balkannationalismen, des Zionismus und des türkischen Nationalismus. Genf war ein Zentrum der armenischen wie auch er jungtürkischen Opposition gegen den Sultan Abdulhamid. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs nahm die osmanische Diaspora mit ihren verschiedenen ethnoreligiösen Clubs die Brüche vorweg, die die postosmanische Welt nach 1918 kennzeichnen. Einen wichtigen Anteil am Vordenken und Umsetzen einer nationalstaatlichen Vision hatten junge, in Genf und Lausanne sozialisierte türkische Akademiker. Sie stehen im Zentrum dieses Buches. Mit guten Gründen fand die Nahostkonferenz von 1922/23, an der die Republik Türkei ihre diplomatische Weihe erhielt, in Lausanne statt: Nationaltürkische Akteure, die zum Teil vorher am Genfersee agiert hatten, boten hier den Westmächten die Stirn und setzten auf höchster diplomatischer Ebene das Prinzip des ethnonationalen Einheitsstaats im einst multiethnischen Kleinasien durch. In Verbindung mit dem Genfer Anthropologen Pittard suchte der 'Vater der Nation', Kemal Atatürk, dieses Prinzip in den 1930er Jahren auch 'wissenschaftlich' abzusichern.
Die blutige Einverleibung der zuvor teilautonomen Regionen in den türkischen Zentralstaat dauerte von den 1830er bis in die 1930er Jahre. Hans-Lukas Kieser setzt sich eingehend mit den Hintergründen der leidvollen Schaffung des türkischen Nationalstaates auseinander: die Kurdenfrage, der Völkermord an den Armeniern und die religiöse Spaltung der Gesellschaft. Er untersucht, weshalb staatliche 'Befriedung', internationale Reformpostulate und christliche Missionsarbeit Kurdistan und Armenien keinen Frieden bringen konnten. Ausgehend von der Analyse des umfangreichen, in weiten Teilen unbearbeiteten Archivmaterials, das die Missionen hinterlassen haben, und anhand von staatlichen osmanischen Quellen, die der Forschung erst seit kurzem zugänglich sind, wird erstmals die Situation der Opfer minuziös dargestellt. Die Untersuchung zum Niedergang des osmanischen Vielvölkerreiches wird ergänzt durch eine systematische Beschreibung ausgewählter lokaler Schauplätze und durch den Einbezug von über 100 historischen Fotografien.