Sozialstaat und Moderne
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Hergebrachte Theorien, die den Zusammenhang von Sozialstaat und Moderne einzufangen versuchen, reduzieren Sozialpolitik zumeist auf ein kompensatorisches Krisenarrangement, das auf Verwerfungen im Modernisierungsprozeß reagiert. Dieses defensive Verständnis betrachtet Sozialpolitik als die erforderliche staatliche Antwort auf gesellschaftliche Problemlagen und Konflikte, die im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, sozialer Entwurzelung und der Erosion traditionaler, gemeinschaftlicher Solidaritätsarrangements zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung entstanden. Einerseits für die gesellschaftliche Stabilität als notwendig erachtet, andererseits als ordnungsinkonformer staatlicher Eingriff in die Marktwirtschaft gebrandmarkt, muß Sozialpolitik als defensive Stabilisierungspolitik erscheinen, die sich reaktiv-kompensatorisch der schlimmsten Blessuren der Industriegesellschaft annimmt. In der hier vorgelegten Analyse wird der Versuch unternommen, eine abweichende Verknüpfung von Sozialstaat und Moderne vorzunehmen. Betrachtet wird die konstitutiv-gestalterische Funktion von Sozialpolitik in Modernisierungsprozessen und ihr Beitrag zur erfolgreichen Etablierung moderner Institutionen. Ist Sozialpolitik nur abhängige Variable von Modernisierungsprozessen, oder gehen von ihr selbst Modernisierungsimpulse aus? Ist der Sozialstaat nur das Produkt, der Output oder ist er auch Motor und Input von Modernisierung? Konkreter: Reagiert Sozialpolitik nur auf das Zerbrechen kleinräumiger Gemeinschaften und die Freisetzung der modernen Individuen, oder ermöglicht sie erst Individualisierung? Reagiert Sozialpolitik auf die Entfesselung der Marktkräfte, oder ist sie nicht ebenso konstitutiv für die funktionale Ausdifferenzierung des Kapitalismus? Wurde die friedliche Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie erst sozialpolitisch ermöglicht? Welche Rolle kommt der Sozialpolitik bei der Etablierung des modernen Nationalstaates und der Installierung bürokratischer Herrschaft zu? Welchen Einfluß nimmt der Sozialstaat ferner auf die Institutionalisierung des modernen dreigeteilten Lebenslaufs, und inwiefern gestaltet er das moderne Geschlechterverhältnis mit? Antworten auf diese Fragen lassen die Sozialpolitik in einem neuen Licht erscheinen. Sie erlauben einen Perspektivenwechsel, der die konstitutiv-gestalterischen Modernisierungsbeiträge staatlicher Sozialpolitik betont. Diese Modernisierungseffekte bilden den Fokus der hier vorgelegten historisch-soziologischen Wirkungsanalyse staatlicher Sozialpolitik. Die Addition der vielfältigen Modernisierungsbeiträge verdeutlicht die Zentralität der sozialpolitischen Entwicklung für die gesellschaftliche Transformation der Moderne. Als ein komplexes institutionelles Arrangement hat sich der Wohlfahrtsstaat als produktive Lösung für zahlreiche Modernisierungsaufgaben erwiesen.