Ehre als Ideal, Idol oder Freipass zu töten
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Mit konkreten Aspekten des vielfältigen Themas habe ich mich schon in einem Beitrag zur Augustnummer 2000 der „Pädagogischen Rundschau“ befasst: Der Aufsatz enthält Informationen über den amerikanischen Honor Code, selbstverständlich nichts über die Katastrophe vom Herbst 2001, die das Thema beängstigend aktuell werden liess, fast nichts über andere Kulturkreise, beispielsweise Gedanken des Rechtsphilosophen Cesare Beccario, nichts über das Gegenteil der Ehre, nämlich Ehrlosigkeit, ohne die man die positive Seite des gesellschaftlichen Wertes schwer verstehen kann. Die „Ehrlosen“ litten und leiden manchmal noch heute an einem Elend, an dem die besser Gestellten mitschuldig waren und sind. Ich vermute, dass Ehre heute häufiger als Gespenst denn als offizieller ethischer Wert weiterlebt (wie der Marxismus, dem Jacques Derrida 1993 unter dem Titel Spectres de Marx ein interessantes Buch gewidmet hat?). Man muss nicht nur an die weltweit verbreitete, aber oft verborgene ‚Onorata Società‛ Mafia denken, sondern auch an bürgerliche Familien, deren Familiensolidarität pseudoreligiösen Charakter besitzen kann. Oder gar an seelisch Kranke, die unbewusst an Ehrverletzungen leiden. Nach meinen ersten Versuchen, dieses rätselhafte Phänomen zu verstehen, schaute ich mich weiter um, meinte nah und fern wichtige Erklärungsversuche zu entdecken – ausserdem auch vergleichbare Parallelen. Habe ich dadurch vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen verloren und dafür meine Unsicherheit hinter Informationen verborgen? Es ist mir ja immer noch nicht klar, ob man Ehre als eine der grossen und gefährlichen Ideen der Menschheit verstehen darf oder sie ins nicht minder gefährliche Reich der Ideologien einreihen soll.