Akteneinsicht contra Strafverfolgungsinteresse
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Der Strafprozess ist geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen widerstreitenden Individualund Kollektivinteressen. Welche Beschränkungen den Beschuldigten treffen dürfen, welche Eingriffe er gegebenenfalls hinnehmen muss, welche Rechte ihm verbleiben oder garantiert werden, hängt davon ab, wie das Individualinteresse des Beschuldigten an einer effektiven Verteidigung und das auf eine wirksame Strafverfolgung gerichtete Gemeinschaftsinteresse zueinander bewertet werden. Man muss aber nicht erst auf die ethischen Grundlagen des Strafprozesses zurückgreifen, um auf diesen Antagonismus zu stoßen. Auch bei der Frage des Akteneinsichtsrechts spiegelt sich der Interessenwiderstreit zwischen Individual- und Allgemeininteressen wider, berührt die Einsichtnahme in die Verfahrensakten doch sowohl das Interesse des Beschuldigten auf umfassende Information über den gegen ihn erhobenen Vorwurf und den zugrundeliegenden Sachverhalt, als auch das staatliche Interesse an der Durchfiihrung ungestörter Ermittlungen sowie die Belange Dritter, die durch eine Verbreitung des Akteninhalts beeinträchtigt sein können. Bei der Problematik des strafprozessualen Akteneinsichtsrechts wird zugleich die Grundstruktur des deutschen Strafverfahrens auf die Probe gestellt, schließlich gehört das Akteneinsichtsrecht mithin zu jenen Rechten, die aufverschiedene rechtsstaatliche Prinzipien zurückgehen und dessen Umfang wesentliches Indiz dafür ist, wie ernst es der Rechtsstaat mit der Anerkennung von Verteidigungsrechten nimmt. Der Bestand an Grundrechten, die Verankerung von Justizgrundrechten und namentlich die Verpflichtung, die Menschenwürde zu schützen und zu achten, sind wichtige Leitentscheidungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens, die den Gesetzgeber vor die Aufgabe stellen, den Beschuldigten in größtmöglichem Umfang als ein mit eigenen Rechten ausgestattetes Prozesssubjekt in das Strafverfahren zu integrieren. Die Rechtslage um das Akteneinsichtsrecht im Strafprozess ist jedoch verworren. Allein die Tatsache, dass deutsche Gerichte sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch in jüngster Zeit noch zu Rechtsfragen der Akteneinsicht in zum Teil grundlegender und inhaltlich partiell divergierender Weise Stellung nehmen, demonstriert den derzeit ungefestigten Diskussionsstand.