Martin Noe͏̈l
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Noëls Aufmerksamkeit gilt den Rissen in Wänden, dem aufgeplatzten Straßenbelag, den feinen, mit bloßem Auge kaum sichtbaren Adern auf der Oberfläche eines Steins oder dem bizarren Muster einer zerborstenen Fensterscheibe. Mit dem neugierigen, zwischen Stadt und Land, Himmel und Erde umherschweifenden Blick eines Flaneurs befragt der Künstler die Bildwürdigkeit von Kinderkritzeleien auf einer Hauswand, von abblätternder Farbe auf einem Garagentor, dem linearen Schattenspiel eines Metallgitters auf einer in opulente Farben getauchten Wand oder grotesk-ornamentalen Formationen von Zweigen und Ästen. Immer wieder stößt Noël bei seinen optischen Streifzügen durch die ihn umgebende Wirklichkeit auf überraschende Erschütterungen der scheinbaren Erfahrungsgewißheit, die die Fundamente der menschlichen Weltsicht bilden. Uwe Schramm _____________________ Vage steigen verschüttete Erinnerungen auf, wenn man sich suchend an die Erkundung von Noëls graphischen Mikrowelten herantastet. Annähernd parallel geführte Strichfolgen wecken Assoziationen an einen sich durch eine imaginäre Landschaft schlängelnden Flußverlauf. Sich vielfach überkreuzende Lineamente stehen in assoziativer Nähe zu einem charakteristischen, oft gesehenen und sich rhizomartig ausbreitenden Wurzelwerk. Mal erscheint die Welt entrückt wie aus der Vogelperspektive gesehen, dann wiederum fühlt sich der Betrachter sehend eingewoben in mikroskopisch vergrößerte Strukturformationen. Das vom Künstler herbeigeführte Spiel zwischen Distanz und Nähe gerät letztlich zu einer unabschließbaren Erfahrung des permanent in Bewegung gehaltenen Blicks. Noëls Zeichnungen zeugen von den dynamischen Bewegungen der Hand ebenso wie von einem plötzlichen Innehalten inmitten des Strichs. Auch der abrupte Abbruch der einmal begonnenen Linienführung zugunsten eines Richtungswechsels gehört zu einem Zeichenrepertoire, das den Raum des jeweiligen Blattes stets aufs neue vorsichtig tastend sondiert. Durch das Eindringen des scheinbar selbständig wuchernden Lineamentes wird die makellose und zuvor ungestaltete Fläche zum aktionsgeladenen Raum, in dem sich quasi unter dem Blick des Betrachters eine endlos fortdauernde Interaktion zwischen den graphischen Spuren der Hand und der von ihnen ausgesparten Leere des Blattes ereignet. Uwe Schramm