Klassengesellschaft reloaded
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Was anhand der Jugendrevolten in Frankreich sichtbar wird, darüber scheinen sich die KommentatorInnen einig: Es zeigt sich dort die Gewalt von exkludierten Bevölkerungsgruppen, es handelt sich um einen „Aufstand der Armen” (Bild vom 7. November 2005). In Frankreich revoltiert demnach die „neue Unterschicht“. Diese Einschätzung ist bemerkenswert. Denn in den 1980er und 90er Jahren intonierten ModernisierungstheoretikerInnen das Lied moderner Gesellschaften als Gesellschaften jenseits von Stand und Klasse. Klassengesellschaftsanalysen wurden daher mit Verweis auf den Grad funktionaler Differenzierung heutiger Gesellschaften als anachronistisch verworfen. Was nun ein bis zwei Jahrzehnte später überrascht, ist nicht nur ein erneuter Fokus auf jene ‚unten‘ und ‚draußen‘, im ökonomischen, sozialen und moralischen ‚Abseits‘, sondern die Semantik in der dies geschieht: Begriffe von ‚Schicht‘ und ‚Klasse‘ erfahren eine neue, ungeahnte Konjunktur – und dies nicht nur im kleinen Kreis übrig gebliebener marxistischer und weberianischer SozialstrukturanalytikerInnen. Der kleine, aber bedeutsame Unterschied besteht allerdings darin, dass sie mit der Vorsilbe ‚Unter-‘ versehen werden, die augenscheinlich den wichtigeren Bestandteil der Rede von einer „neuen Unterschicht“ darstellt. Sozial-progressive SozialwissenschaftlerInnen scheinen sich dabei mit konservativen Intellektuellen darüber einig, dass eine solche ‚Unterschicht‘ existiert und eine wesentliche, nicht angemessen berücksichtige, gesellschaftliche Herausforderung darstelle. So spricht beispielsweise der designierte deutsche Innenminister einer großen Koalition, Wolfgang Schäuble, in der Bild-Zeitung vom 7. November 2005 davon, dass die Verhältnisse in Frankreich zwar anders seien „als bei uns.” In der Bundesrepublik gäbe es nicht „diese riesigen Hochhaussiedlungen”, wie sie am Rand französischer Großstädte zu finden sind. „Aber auch bei uns entwickeln sich Viertel mit hohem Ausländeranteil, die sich immer mehr von der übrigen Gesellschaft abschotten.” Heutige Gesellschaften werden auch von Schäuble in einem Zentrum-Peripherie-Modell gedacht: im Kern steht demnach die ‚integrierte’ bürgerliche Mehrheitsgesellschaft und am Rand verbergen sich in zunehmend „eigenen Welten” Bevölkerungsgruppen mit einem extrem hohen Erwerbslosen- und Migrationsanteil. Wie kommt es zum Comeback derartiger Klassengesellschaftsdiagnosen? Und in welcher Weise werden diese vollzogen? Das Heft enthält folgende SCHWERPUNKT-Beiträge: Jock Young: Soziale Exklusion; Uwe H. Bittlingmayer, Ullrich Bauer und Holger Ziegler: Grundlinien einer politischen Soziologie der Ungleichheit und Herrschaft; Fabian Kessl: Das wahre Elend? Zur Rede von der „neuen Unterschicht“; Alex Klein, Sandra Landhäußer und Holger Ziegler: The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheit. FORUM-Beiträge: Joachim Weber Mäeutisch statt klinisch. Plädoyer für eine nicht-klinische Sozialarbeit; Arnd Richter: Politische Bildung und soziale Kompetenzentwicklung – ein ambivalentes Verhältnis.