Ohr und Auge - Klang und Form
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Daß man eine musikalische Form „überschaubar“ – und nicht etwa „überhörbar“ – nennt, mutet ebenso selbstverständlich an wie der immer wieder formulierte Vergleich zwischen Musik und Architektur. Doch verbirgt sich hinter diesem Transfer optischer Kategorien auf akustisch wahrnehmbare Klangereignisse eine Traditionslinie, die bereits im 18. Jahrhundert Widerspruch hervorrief. So kritisierte Johann Gottfried Herder den von der Architektur entlehnten Formbegriff klassizistischer Autoren als Kolonialisierung des Ohrs durch das Auge – ein Gedanke, den Richard Wagner aufgreifen und gegen Eduard Hanslicks Ästhetik des „Musikalisch-Schönen“ verteidigen sollte. In diesem Sinne wird Wagners „unendliche Melodie“ neu als Versuch interpretiert, eine „unanschauliche“, von der Vorherrschaft des Auges weitgehend befreite Musik zu schaffen. Klang und Form treten dabei in ein Verhältnis, das sich mit Begriffspaaren wie „dionysisch/apollinisch“ (Nietzsche) oder „Es/Ich“ (Freud) verbindet und auf dieser Grundlage sogar musikdramatische Gestalt gewinnt: in Wagners Meistersingern von Nürnberg und noch am Ende der 1910er Jahre in Franz Schrekers Die Gezeichneten.