Hanns Zischler, Lichtbilder
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Lichtreuse, Lichtbilder Wenn das, was wir einer dunklen Überlieferung zufolge Zeit nennen, ein Strom von Ereignissen ist, die aus einem unsichtbaren Feld vor uns – der 'Zukunft' – hereinbrechen und durch uns hindurchströmen, um alsgleich in einem Feld hinter uns – der 'Vergangenheit' – zu verschwinden, so ist die Photographie der Augenblick, in dem diese Ereignisse ans Licht treten und erstarren. Sie haben in dem Gehäuse (Lichtreuse), das zur Überlistung und Domestizierung des Lichts ersonnen wurde, eine Spur oder zumindest den Abdruck einer Spur hinterlassen. Es ist für den Prozeß der Aufnahme – nicht aber für das Ergebnis – gleichgültig, welches Gehäuse ich eingesetzt habe. In den siebziger und achtziger Jahren war es vor allem die traditionelle glas-optische Photographie, Mitte der neunziger kam die pinhole-Camera hinzu, um das Jahr Zweitausend schließlich drängte sich die digitale Fotografie vor. Die Wahl des jeweiligen Gehäuses geschah eher unbewusst, zumindest nicht vorsätzlich – so gesehen ist es nicht ganz zutreffend, von einer Wahl im herkömmlichen Sinn zu sprechen. Eher war es so, daß je nach dem wechselnden Aggregatzustand meiner Betrachtung – sammelnd, zerstreut, von einem déjà-vu hypnotisiert –, diese oder jene Technik sich aufdrängte. Die meisten Lichtbilder sind im Windschatten meiner beruflichen Reisen entstanden. Es gehört für mich zu den beunruhigenden Paradoxien dieser Aufnahmen, daß die Erinnerungen an den Ort und die besonderen Bedingungen ihrer Entstehung wie ausgelöscht sind. Die Erinnerungen kehren auch dann nicht wieder, wenn ich die Bilder betrachte. Sie haben mich verlassen, sind in den Bildern versickert. Ich will diesen Befund nicht verallgemeinern; er sagt lediglich etwas über meine geistige Verfassung und meinen Gemütszustand beim Betrachten der Bilder aus.