"Frauen und Familienleben in China"
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Koller betrachtet die Übersetzung als Kulturarbeit in einem weiteren Sinne, und in einem engeren Sinne als Spracharbeit. Die Übersetzungsaufgabe ist eine kommunikative Herausforderung, die unter zwei Aspekten gesehen werden muss: dem Aspekt des Kulturkontakts und dem Aspekt des Sprachkontakts. Jeder Text ist in einer bestimmten Kultur verankert. Die Sprachnorm und Verhaltensweise sind von Kultur zu Kultur verschieden; sie unterscheiden und verändern sich auch innerhalb einer Kultur. Je größer die Unterschiede sind, umso höher ist die kommunikative Herausforderung für den Übersetzer, der die Differenz überbrücken muss. Die Übersetzung vom Chinesischen ins Deutsche betrifft genau den Fall. Nicht nur die Grammatik sowie die Syntax folgen anderen Regeln, sondern auch der Satzbau und die Logik zwischen den Sätzen unterscheiden sich weit von denen im Deutschen. Wenn man solche kulturspezifischen Sprachelemente im Ausgangstext adäquat in die Zielsprache vermittelt und dabei sowohl Inhalt, Stil als auch die kommunikative Wirkung des Ausgangstextes in der Übersetzung beibehalten möchte, muss man zunächst vor der Übersetzung eine passende Strategie festlegen. Hierzu unterscheiden Reiss und Vermeer zwischen verschiedenen Übersetzungstypen wie „Wort-für-Wort-Übersetzung (Interlinear-version)“, „die wörtliche Übersetzung“, „die philologische Übersetzung“, „sprach-schöpferische Übersetzung“ usw. durch die jeweils ein dem Zweck adäquates Translat entsteht. Dabei stellen sie den Übersetzungstyp des „kommunikativen“ Übersetzens als Ideal heraus, das heute immer mehr bevorzugt wird. Nach Reis und Vermeer ist „kommunikatives“ Übersetzen „eine Übersetzung, der man zumindest sprachlich nicht die Übersetzung ansieht; eine Übersetzung, die in der Zielkultur bei gleicher Funktion unmittelbar der (alltäglichen, literarischen oder künstlerisch-ästhetischen) Kommunikation dienen kann und dabei dem Original (möglichst) in allen seinen Dimensionen (syntaktisch, semantisch und pragmatisch) gleichwertig, äquivalent ist.“ Beim Übersetzen wird die geistige Wirklichkeit von der Ausgangssprache gelöst, deverbalisiert und in Zeichen der Zielsprache „reinkarniert“. Wichtig ist das verhältnis der Übersetzerin zur Zielsprache. Die Übersetzerin soll die Zielsprache nicht vergewaltigen, sondern alle Möglichkeiten, die der Sprache innewohnen, erwecken. In den Vordergrund tritt die Übersetzungskompetenz. Die Übersetzerin muss die Botschaft des Textes richtig verstehen und für die Empfänger funktionsgerecht neu formulieren. Damit steigt natürlich die Verantwortung der Übersetzerin: Sie führt nicht mehr bloß einen Transfer anhand von Regeln und Strategien aus, sondern handelt eigenverantwortlich und kreativ. Dabei muss sie ihre Entscheidungen im Nachhinein linguistisch begründen können. Die Verantwortung macht ein ausgeprägtes Bewusstsein für das übersetzerische Handeln und eine kritische Auseinandersetzung damit erforderlich.