Interkulturelle Literaturwissenschaft
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Der Sammelband enthält größtenteils vom Autor überarbeitete Versionen früher publizierter Aufsätze zur romanischen Literaturwissenschaft. Auswahl und Anordnung der 17 Texte sollen eine durchgehende gedankliche Linie erkennbar machen und den Leser zugleich mit der Vielfalt der romanischen Literaturen konfrontieren. In chronologischer Hinsicht wird ein Bogen vom Mittelalter über die frühe Neuzeit und das Zeitalter der Romantik bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespannt. Im ersten Drittel des Buches dominieren literatur- und kulturtheoretische Reflexionen, auf deren Grundlage das Konzept einer interkulturell orientierten Literaturforschung entwickelt wird. Als Wegbereiter werden Romanisten wie Erich Köhler genannt, dazu kommen interdisziplinäre Ansätze, vor allem in Verbindung mit den Werken des Sozialhistorikers Norbert Elias. Diese theoretischen Grundlagen werden in einer Reihe von Studien auf diverse Texte und Kontexte der romanischen Literaturen angewandt und gleichsam experimentell erprobt. Gefragt wird dabei einerseits nach den Modalitäten der Herausbildung von kulturellen Standards im Zusammenhang mit Machtverhältnissen innerhalb von Gesellschaften. Andererseits geht es auch um die Rolle der Literatur im Zusammenhang mit dem Streben von Kulturgemeinschaften nach Hegemonie oder defensiver Selbstbehauptung. Der Anteil der Literatur an solchen „Zivilisationsprozessen“ scheint so bedeutend zu sein, dass sich der Betrachter und Interpreten von dichterischen Texten zu heuristisch motivierten Veränderungen seiner Perspektive und zugleich zur Infragestellung seines eigenen Standortes (analog zur Anamorphose auf Holbeins berühmtem Gemälde) veranlasst sieht. Angesichts der vielfältigen Verflechtungen von „großen“ und „kleineren“ Literaturen der Romania zeichnet sich ein spezifisch romanistischer Zugang zur Literaturforschung ab, der die Vielfalt der Arbeitsgebiete dieses manchmal als „unmöglich“ bezeichneten Faches auf nachhaltige Weise nützt. So kann z. B. die Beziehung der französischen Kultur zur Universalität aus dem Blickwinkel des Okzitanischen hinterfragt werden. Andererseits kann eine Literatur mit glanzvoller Tradition wie die italienische durch den Wandel der Machtverhältnisse Charakteristika einer in die Defensive gedrängten Kultur annehmen. Auf diese Weise erscheinen selbst große „Klassiker“ wie Dante, Racine, Eminescu oder Chateaubriand in einer für den Leser konventioneller Literaturgeschichten ungewohnten Beleuchtung. Zugleich gewinnen AutorInnen, die Sprachminderheiten oder von Kolonisierung geprägten Gesellschaften angehören, im Lichte interkultureller Perspektivierungen neue Dignität.