Vera Ikon - Verwandschaft von christlicher Reliquie und früher Fotografie
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In ihren frühen Tagen galt die Fotografie als unbestechliche Übermittlerin Bild gewordener Wahrheit. Allein die Wurzeln ihrer Entstehung in Naturwissenschaft und Technik schienen ihre unbedingte Objektivität zu garantieren. Als besonders wesentlich für den fotografischen Prozess wurde die Tatsache angesehen, dass sich die Natur offenbar automatisch und ohne Einfluss des Menschen abbildete. So entwickelte die frühe Fototheorie voll Begeisterung Zuschreibungen an das Medium, die mitunter fast metaphysisch anmuteten. Auch die christliche Religion ist mit dem Phänomen des von selbst entstandenen, sogenannten „nicht von Menschenhand gemachten“ Bildes oder Vera Ikon vertraut. Gemeint sind damit wundersame Abbilder Christi auf Tüchern wie z. B. dem Abgar-Bild, die den Charakter von Reliquien besitzen. Diesen Bildern haftet ebenso ein Wahrheitsgedanke an, indem sie die Existenz Jesu belegen sollen. Außerdem trugen sie bedeutend zur Entwicklung der Darstellungstradition in der Ikonenmalerei bei, deren Bildauffassung sich stark von der westlicher Sakralkunst unterscheidet. Die vorliegende Untersuchung nähert sich der Frage der Evidenz im fotografischen und religiösen Bild auf medientheoretischer Ebene mit besonderer Rücksicht auf Roland Barthes Überlegungen zur Fotografie. Dies geschieht, indem sie nach den speziellen - vermeintlichen und tatsächlichen - Eigenschaften von Bildern forscht, die dem Wahrheitsgedanken visuell Geltung verleihen wollen. Diese Analyse wird beispielhaft durchgeführt anhand von Fotografien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welchen die Bereiche Wissenschaft, Kunst und Religion zusammenfallen: frühe Aufnahmen aus Jerusalem von Auguste Salzmann und Francis Frith, die Fotografie des Turiner Grabtuchs von Secondo Pia und die Verwendung christlicher Motivik durch den Fotografen und Künstler Fred Holland Day.