Bürgerliche Trauer
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Jede Epoche hat ihre eigene Trauer - so auch das bürgerliche 19. Jahrhundert. Seit der Romantik steht es im Banne der Ambivalenz; wie nahe sich Tod und Eros sind, bezeugt Wagners skandalisierender 'Tristan'. Von Ambivalenzen geprägt ist auch die Grabskulptur: der Tod selbst wird erotisiert. Die Engel am Grab stehen für eine Mythologie des Ewig-Weiblichen, verwandelt in weltlichästhetische Denkbilder. Sie verdrängen das Kreuz und hüten die Gräber des Bürgertums, ohne noch Garanten himmlischer Botschaft zu sein. Dahinter steht ein Evangelium der Schönheit, wie es der Ästhetizismus seit Ruskin verkündete. Zwischen Realitätsprinzip und Theatralik entwickelt die bürgerliche Trauer einen Habitus, der bestimmte Affekte und Darstellungsformen hervorbringt. Trauer ist nichts Privates, die Reputation verlangt nach Inszenierung. Ihr Kunstcharakter nimmt in dem Maße zu, als christliche Deutungsmuster ihre Kraft einbüßen. Der Friedhof, als Naturpark hergerichtet, mutiert zum weltlichen Andachtsort; die Grabskulpturen, weitgehend feminisiert, sind aufwendige Statussymbole. Sinnfragen, die außerhalb der etablierten Religion nicht zu vermeiden sind, verlangen nach Sinnkonstruktionen. So beherrscht eine Mystik des 'Lebens' die Friedhofskultur; die bürgerliche Trauer korrespondiert mit einer Philosophie des Als-Ob, welche die Funktion ästhetischer Beschwichtigung und Tröstung hat. Das Moment der Verzweiflung in der Ästhetisierung des Daseins erkannte jedoch schon Kierkegaard. Eros und Tod, klassische Auslöser von Ambivalenzerfahrung, befördern das Abgleiten in das geborgte Gefühl, in den Kitsch. Die latente Melancholie vieler Grabmäler der Belle Époque verrät metaphysische Resignation. Der Große Krieg macht solche bürgerliche Trauer obsolet.