Sollen und Können
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Die moralischen Intuitionen, die unser Denken und Handeln leiten und die von der philosophischen Ethik expliziert werden, sind unter Bezug auf vormoderne Gesellschaften entstanden. Das moralische Sollen ist besonders seit I. Kant direkt und unmittelbar an jeden Einzelnen gerichtet: Er soll moralisch handeln, indem er seine egoistischen Neigungen überwindet. Heute leben wir allerdings in modernen Gesellschaften mit völlig anderen Strukturen. Vor allem die Marktwirtschaft mit den Systemimperativen Wettbewerb und Gewinnstreben sowie die zunehmende Bedeutung globaler Gemeinschaftsgüter setzen das moralische Handeln des Einzelnen der Gefahr aus, von weniger moralischen Akteuren ausgenutzt zu werden. Das Sprichwort bringt es auf den Punkt: Der Ehrliche ist der Dumme. Unter diesen Bedingungen ist moralisches Handeln im Alltag nur dann dauerhaft möglich, wenn es durch eine sanktionsbewehrte soziale Ordnung vor solch systematischer Ausbeutung geschützt wird, denn es gilt: Sollen setzt Können voraus. In diesem Buch wird der Grundriss einer Ethik entwickelt, die diesen Bedingungen systematisch Rechnung trägt. Das führt keineswegs zu einer „Umwertung aller Werte“. Vielmehr wird an den Prinzipien der abendländisch-christlichen Ethik, also an der Freiheit und Würde des Einzelnen und der Solidarität aller Menschen, programmatisch festgehalten; die erforderlichen Verhaltensänderungen sind allein den veränderten Bedingungen geschuldet. Nur eine solche Ethik vermag den Menschen in der modernen Welt normative Orientierung zu geben, weil sie die Einzelnen vor moralistischen Überforderungen und der daraus häufig folgenden Resignation bewahrt.