Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum
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Im frühen Mittelalter erhielt die Bindung der Herrschergewalt an das Recht erstmals Verfassungsrang. Vor allem die Gesetze des merowingischen Königs Chlothar II. (584–629) versprachen den Untertanen die Respektierung ihrer Rechte und den Verzicht auf rechtswidrige Eingriffe des Königs. Das wichtigste dieser Gesetze war die sogenannte Praeceptio Chlotharii; sie wird von Stefan Esders in ihrer handschriftlichen Überlieferung eingehend analysiert, nach über einhundert Jahren neu herausgegeben, übersetzt und ausführlich rechtsgeschichtlich kommentiert. Das ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. In Burgund, dem Geltungsbereich der Praeceptio Chlotharii, erscheint das merowingische Königtum als Fortführung der römischen Rechts- und Fiskalverwaltung; die merowingischen Könige machten für sich die Rechte der römischen Kaiser geltend. Der Mißbrauch dieser Rechte – etwa die Ausschaltung politischer Gegner durch Konfiskationen – führte 613 zu Unruhen, die Chlothar zu seiner ganz in der römischen Rechtstradition stehenden Gesetzgebung veranlaßten. Auch der Machtgewinn der Hausmeier (Fiskalbeamte) war die Folge der römisch geprägten fiskalrechtlichen Stellung des Königtums. Die Veränderungen in der politischen Organisation der Merowingerzeit waren also weniger das Ergebnis eines germanischen Verfassungsumsturzes, wie lange behauptet wurde, sondern ergaben sich aus der Aneignung römischer Rechts- und Herrschaftstraditionen durch die merowingischen Könige.