Der Glaspalast
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Ein scheinbarer Friede liegt über dem Land Birma, über dem prächtigen Königsschloss mit seinen funkelnden Fenstern und Türmen, als der junge Rajkumar auf einem Schiff in Mandalay eintrifft. Er hat Glück, denn er findet nicht nur rasch Arbeit und Unterschlupf bei der klugen Ma Cho, der Inhaberin einer Imbissbude, sondern lernt auch in ihrem Liebhaber, dem Chinesen Saya John, einen Mann kennen, der ihn sein ganzes Leben lang fördern und als Freund begleiten wird. Doch eines Tages ist es mit der Beschaulichkeit in der kleinen Stadt vorbei: Um sich ihren Anteil am einträglichen Teakholzgeschäft zu sichern und eine wichtige Bastion im südostasiatischen Raum zu schaffen, erobern die Engländer das Königreich Birma und marschieren in Mandalay ein. Während sich die herrschsüchtige Königin Supayalat, die ihren Mann Thebaw mit List und Gewalt auf den Thron gebracht hat, im Palast auf den schmählichen Weg ins Exil vorbereitet, wird Rajkumar mit einem Strom von Plünderern in den mächtigen Glaspalast gespült, dessen glitzernde Fassaden er bislang nur voller Ehrfurcht aus der Ferne bewundert hat. Wie im Traum wandert er durch die mit Kostbarkeiten gefüllten Räume, nimmt eine Schatulle mit Edelsteinen an sich, um sie vor den marodierenden Eindringlingen zu retten, und reicht sie dem erstbesten Menschen aus dem Gefolge der Königin, der ihm begegnet: einem jungen, erschrockenen Mädchen. Dieses Mädchen, eine Waise namens Dolly, die als Kindermädchen die beiden kleinen Prinzessinnen in ihrer Obhut hatte, dünkt ihn das schönste Wesen, das ihm jemals begegnet ist, und als er aus dem Palast flieht, hat er nur einen Gedanken im Kopf: sie wiederzusehen. Die Gelegenheit bietet sich bald, als die königliche Familie, vorbei an ihren vor Entsetzen stummen Untertanen, durch die Straßen der Stadt zum Fluss gehen muss, wo ein Schiff mit unbekanntem Ziel auf sie wartet. Rajkumar steckt dem Mädchen ein paar Süßigkeiten zu. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzen werden, weiß er im selben Moment, dass er dieses Zauberwesen nie vergessen wird. Saya John, dessen einziger Sohn Matthew in Singapur auf eine Missionsschule geht und selten von sich hören lässt, nimmt sich Rajkumars an und bringt ihn nach Rangun, wo er im Teakholzgeschäft tätig ist. Rajkumar erlernt das gefährliche Handwerk des Elefantentreibers und lebt viele Monate mit seinem Ziehvater im Dschungel, wo die kostbaren Stämme gefällt und auf Lagerplätzen gesammelt werden, bevor sie ihre lange Reise auf den Flüssen antreten. Dolly ist inzwischen mit der Königsfamilie in ihrem Exil in Ratnagiri, südlich von Bombay, eingetroffen. Die Lage ist niederschmetternd. König Thebaw verfällt zusehends der Schwermut und verbringt seine Tage in einem Ausguck seines Palastes, wo er stundenlang mit einem Fernrohr die ein- und auslaufenden Schiffe beobachtet und den Gedanken an sein verloren gegangenes Reich nachhängt. Dass ausgerechnet ein Inder als Verwalter und Aufseher der Exilierten eingesetzt wurde, bedeutet eine weitere Demütigung für ihn, doch die junge Dolly findet in dessen Frau, der willensstarken und charismatischen Uma, eine Gefährtin, der sie ihr Leben lang verbunden sein wird. Und nicht nur das: Durch Vermittlung von Umas Onkel trifft Rajkumar auf Geschäftsreise in Ratnagiri ein, und aus Anlass eines Abendessens in der Residenz des Verwalters, zu dem auch Dolly eingeladen ist, kommt es zu dem Wiedersehen, von dem Rajkumar in einsamen Nächten im Dschungel geträumt hat. Nach einigem Zögern geht Dolly auf das Werben des aufstrebenden jungen Teakholzhändlers ein, an den sie sich von jener ersten Begegnung her gar nicht mehr erinnern konnte, und folgt ihm nach Rangun. Mit der großen Liebesgeschichte zwischen Dolly und Rajkumar, die in zwei Söhnen, Neel und Dinu, Erfüllung findet, aber auch zahlreiche Schicksalsschläge und Prüfungen bestehen muss (Dinus schwere Erkrankung an Kinderlähmung und seine glückliche Genesung; Rajkumars außereheliche Beziehung zu einer einfachen Gutsarbeiterin, aus der ein Sohn, Ilongo, hervorgeht), folgt der Leser Ghoshs großem Familienepos in die zweite Generation und ins neue Jahrhundert. Neue Schauplätze (Bombay, New York oder auch Saya Johns Kauschukfarm in Malaya, auf der sich sein Sohn Matthew und seine amerikanische Frau Elsa niederlassen und zwei Kinder, Alison und Timmy, großziehen) und neue Figuren prägen die Handlung, vor allem aber gewinnt die brisante politische Entwicklung des indischen Subkontinents mit seinen Freiheitsbestrebungen und Loyalitätskonflikten eine immer größere Bedeutung als Hintergrund des Romans. Der Weg Indiens in die Unabhängigkeit und die Folgen dieses Kampfes für angrenzende Länder wie Birma, das seit 1886 Britisch-Indien einverleibt ist, spiegelt sich vor allem im Lebensweg von zwei Figuren: dem von Uma, der wohl eindrucksvollsten Frauenfigur in Ghoshs Roman, und in deren Neffen Arjun, dem Sohn ihres Bruders. Für Uma beginnt nach dem Todes ihres Mannes, des Verwalters von Ratnagiri, eine ruhelose Suche nach ihrer Identität; um ihrer traditionell unfreien Rolle als Witwe in Indien zu entfliehen, reist sie zunächst nach Europa und dann nach Amerika, wo ihr die Begegnung mit Landsleuten, die für die Befreiung Indiens von der Kolonialherrschaft kämpfen, die Augen öffnet; Uma wird zur glühenden Verfechterin der Sache und bietet nach ihrer Rückkehr in die Heimat Mahatma Ghandi ihre Dienste an. Das Schicksal von Umas Neffen Arjun reflektiert dagegen die Konflikte einer Generation später. Arjun, ein kühner, kämpferischer Mann, wird noch in den Dreißigerjahren Offiziersanwärter in der britischen Armee - für einen Inder ungewöhnlich - und steht zunächst voll hinter seinen Kolonialherren. Erst der Zweite Weltkrieg, in dem die Japaner 1941 bis nach Birma und Malaya vorstoßen, führt ihm die Widerspüchlichkeit seiner Situation - als Kämpfer für eine Sache, die schon lange nicht mehr die seine oder die seiner Heimat ist - vor Augen. Arjun wechselt die Seiten und tritt zusammen mit seinem treuen Burschen, dem Sikh Kishan Singh, in die Indische Nationalarmee über, doch die Härte, die der Krieg ihm abverlangt, macht ihn zu einem gnadenlosen und einsamen Mann, der schließlich als gebrochener Mensch auf dem Schlachtfeld sein Leben lässt. Einige von Ghoshs Figuren, wie Alison, Saya Johns Enkelin, und Manju, Arjuns Schwester, die beide auf der Flucht vor den Japanern umkommen, werden die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges nicht überleben, doch andere begleiten den Leser als Mitglieder der dritten Generation dieser weit verzweigten Familie bis in die heutige Zeit. Ihren Ausklang findet die Geschichte im Jahre 1996, als Jaya, die Tochter Manjus, nach Rangun kommt und ihren alten Onkel Dinu aufspürt. Es ist kein anderer als der immer etwas schwächliche Sohn von Rajkumar und Dolly, der sein Leben der Fotografie gewidmet hat und ein Atelier mit dem anspielungsreichen Namen Glaspalast hat. Ihm, der in der Diktatur des heutigen Myanmar ein bescheidenes Leben führt, erzählt Jaya auch das Ende der Familiengeschichte: dass Rajkumar und Uma, deren Verhältnis auch wegen Rajkumars Untreue Dolly gegenüber niemals ungetrübt war, zusammen alt geworden und mit wenigen Wochen Abstand friedvoll gestorben sind. Die Freundschaft dieser zwei Menschen, die so viele Jahrzehnte überdauert hat, steht als eines der anrührendsten Bilder dieses Romans an seinem Schluss: In einer Erinnerung von Jayas Sohn, der als Schriftststeller in den USA lebt und wohl ein Alter Ego des Autors selbst ist, sieht dieser sie als alte Leute, wie sie, ohne sich zu berühren, nackt nebeneinander im Bett liegen und schlafen, neben sich ein Glas mit ihren Gebissen, die sich ineinander verhakt haben. Von seinem fast märchenhaften Beginn über die realistischen Schilderungen von Unabhängigkeitskampf und Weltkrieg bis hin zu dem melancholischen Epilog aus der heutigen Zeit: „Der Glaspalast“ ist eine großartig geschriebene, lebenspralle Familiensaga mit zahlreichen Figuren und Episoden und vermittelt die hierzulande weitgehend unbekannte Geschichte Birmas unterhaltsam, spannend, mit viel Gefühl und einem beeindruckenden epischen Atem. „Ein umwerfender Erzähler.“ Andreas Isenschmid, Weltwoche „Der Doktor Schiwago des Fernen Ostens!“ The Independent on Sunday „Warum sollte man statt einem Geschichtsbuch einen Roman lesen? Ghosh schreibt so faszinierend und verführerisch, dass sich die Frage spätestens ab Seite 2 dieses Romans erübrigt.“ The Times