Morgengâbe

AuszugVorwort „ … sus der tac erschein, weindiu ougen, suozer frouwen kus. sus kunden si dô vlehten ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. swelh schiltaer entwurfe daz geselleclîche als si lâgen, des waere ouch dem genuoc. ir beider liebe doch vil sorgen truoc, si phlâgen minne ân allen haz.“ … als der Tag erschien, weinten die Augen, süßer Frauenkuß. So konnten sie nur verflechten den Mund, die Brust, die Arme und blanken Beine. Zeichnete dies ein Wappenmaler, wie sie beisammen lagen, so wäre dies auch ihm genug. War auch ihr beider Liebe von Sorgen schwer, sie pflegten der Liebe ohne jede Kümmernis. (Wolfram von Eschenbach, Gedicht I, 69; um 1220) Da die Liebe den Liebenden unversehrten Raum und unantastbare Zeit schafft, bedeutet das tageliet mit der morgengâbe des minnenden Liebenden für seine Geliebte nicht nur das durch den heraufziehenden tac verkündete Ende des Zusammenseins beider, den Abschied der Liebenden voneinander („et ades sera l’alba“ – „und bald wird’s Morgen sein“, so der Refrain in einem Tagelied – alba des provenzalischen Minnesängers Giraut de Bornelh aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts), sondern auch ihren (der Liebe) täglich neuen Wiederbeginn, der immer wieder neu durchstrahlt wird vom tagen ihrer sie hervorbringenden Sonne: der Sonne ihrer Liebe, jener Sonne, die mir immer wieder neu aufgeht aus der Sonne meiner geliebten Frau Deborah. Die morgengâbe der folgenden Gedichte sei ihr gereicht als Ausdruck meiner Bewunderung, meiner Verehrung, meiner Liebe und meines stets unzulänglichen Dankes. „Τις δε βιος, τι δε τερπνον ατερ χρυσεης Αφροδιτης; τεθναιην, οτε μοι μη ετι ταυτα μελοι …“ – Was wär das Leben, was süß, ohne Venus, die goldene Göttin? Sterben möchte ich fürwahr, läg mir an dieser nichts mehr! (Mimnermos von Kolophon, carmen 1 Diehl; 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Chr.) (1) Wolfgang Brunsch, Groß Strömkendorf bei Wismar, im Juli 2012