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Steht alles noch dahin

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Auszug„Steht alles noch dahin“ – lautet der Titel dieser, nennen wir es in einem ersten Anlauf: Textsammlung. Das Satzfragment stammt aus einem Gedicht vom Marie Luise Kaschnitz. Unter dem Titel „Steht noch dahin“, lesen wir: Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln wir haben’s gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns Fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin. Wer denn nach einer Leseanleitung für die Gedichte, Aphorismen, Sentenzen und Notate von Bruno Pockrandt fragte, im Kaschnitz-Poem fände er alles Nötige zum Verstehen. Zum Beispiel die erfahrungsgesättigte Skepsis gegenüber dem Großen Welttheater, das wir Menschen aufführen und das von der Tragödie über die Komödie bis zur Groteske reicht. „Misanthropische Anwandlungen“ lautet darum ein erstes Kapitel. Eine gebändigte, immer wieder von Mitleid und Erbarmen mit unserem Nicht-aus-unserer-Haut-Können durchbrochene Misanthropie. Dann diese großartige Interjektion der Kaschnitz:“. wir haben’s gesehen“. Ja, Bruno Pockrandt hat genau hingesehen und hingeschrieben, etwa im 2. Kapitel „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“, was er gesehen hat und sieht. Er leidet weder an der Volkskrankheit der Geschichtsvergessenheit, die uns leben lässt, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, vielleicht nicht einmal ein Heute, sondern er weiß, wo wir herkommen, was wir mitschleppen an Geschichtserbe, und dass der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch, wie Brecht sagte. Noch kranken seine Texte an Betriebsblindheit, an mangelnder Wachsamkeit für das, was in der Gegenwart geschieht, am Menschlich-Allzumenschlichen bis hin zum Unmenschlichen. Bei der Beschreibung dessen, was zuweilen jeder Beschreibung spottet, greift der Autor selten zum breiten Stift und trägt dick auf, sondern Kennzeichen seiner Texteinwürfe ist das Kaschnitzsche Pastell, die zarte Pinselführung, der es nicht um Effekt oder Affekt geht, sondern um genaues Wahrnehmen, um Einfühlung und eine dieser genauen Einfühlung gewachsenen Sprache. Besondere Bedeutung für den langjährigen Krankenhausseelsorger und Sterbebegleiter Pockrandt hat der letzte Satz in Marie Luise Kaschnitz‘ Gedicht: „. ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben!“ Diese Frage, die selber ja schon Ausdruck von Hoffnung ist – der Paulinischen Hoffnung wider alle Hoffnung –, imprägniert jeden Satz, der etwa in den beiden vorletzten Kapiteln „Modulationen des Vorletzten“ und „Freund Hein steht in der Tür“ zu lesen ist. Die Frage harrt der Antwort bei jedem Einzelnen, dem der Gang in „diese gute Nacht“ (Dylan Thomas) noch bevorsteht, aber auch bei einer von Klimawandel und Kapitalismusexzessen bedrohten Menschheit als Ganzer. Hoffnung ist, so Kaschnitz, so Pockrandt, kein Gratisgeschenk für die hoffnungslosen Optimisten, sondern ein „Fertigbringen“, ein Sich-Erarbeiten und Sich-Bewahren. Hoffnung bewährt sich im Einzelnen, im Alltag. Die Texte dieses Bandes sind lesenswerte Bewährungshelfer für diesen Weg, eben „Gabe der Zuversicht“, wie das letzte Kapitel überschrieben ist.

Parameter

ISBN
9783939537229

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2013

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