Cantandora
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Vom Leben zu erzählen ist die Aufgabe einer Cantandora. Sie reiht sich ein in die Tradition der weltweit verbreiteten Märchenerzähler, der Barden, Troubadoure, der Wanderer, der heiligen Bettler und der heimatlosen Clochards, die uraltes Wissen überliefern und Sorge für dessen Erhalt tragen. Eine Cantandora serviert ein gehaltvolles Mahl. Sie vermischt sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Zutaten, reichert sie mit der Gewürzpalette ihrer eigenen Vorstellungskraft an und serviert das Ergebnis ihren gespannt lauschenden Zuhörern teelöffelweise oder mit der Suppenkelle, als Nahrung für die Seele oder gar als Medizin. Ich wähle die Lyrik als Form des künstlerischen Ausdrucks, weil sie meinen Eindrücken auf vielfältigste Art und Weise Ausdruck verleiht: In dem, was geschrieben steht und in dem, was sich zwischen den Zeilen verbirgt. Man sollte meinen, als Autorin benutze ich die Sprache. Doch es ist genau das Gegenteil. Die Sprache benutzt mich. Ich bin nicht mehr als ein Gefäß in dem sich die Worte sammeln, neu formen, um letztlich in der Gestalt von mir niedergeschrieben zu werden, in der sie sich wohlfühlt. Ich bin des Wortes Wirt. Es lebt von mir und in mir und wenn es sich sattgefressen hat, lässt es sich vor meinen Augen aufs Papier fallen und demonstriert Unabhängigkeit. Doch manchmal, in diesen unvergleich wertvollen Momenten, nehmen mich die Worte bei der Hand und wir tanzen Tango miteinander. Wir sind ein Liebespaar, die Sprache und ich. Wir tanzen über die Dächer der Stadt, bis die Tagworte mit den Nachtworten um ihr Vorrecht streiten. Und falls uns eine Cantandora dabei beobachtet, so wird sie Euch darüber erzählen. Renate Weilmann