Intrinsische Lesemotivation. Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten von bibliotherapeutischen Aktivitäten
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Kapitel 2.4, Das Gehirn eines Analphabeten: Eine Studie aus 2013 ergab, dass es in Österreich fast eine Million Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren gibt, die völlig unzureichend lesen und schreiben können. Das bedeutet, dass es auch in unserem Land 17,1 Prozent funktionale Analphabeten gibt. Damit liegt Österreich bei der Lesekompetenz unter dem Durchschnitt jener OECD- Länder, die an dem internationalen Vergleich teilgenommen haben, so der Originalwortlaut aus dem Artikel der Presse. 100.000 Menschen konnten wegen ihrer geringen Lese- und Schreibfähigkeit an der Studie gar nicht teilnehmen. Diese Form von Analphabetismus darf man sich aber nicht so vorstellen, dass die Betroffenen überhaupt nicht lesen oder schreiben können. Sie können Buchstaben, einzelne Wörter und kurze Sätze sehr wohl erfassen, ganze Textstellen aber nicht verstehen und komplizierte Briefe oder Behördendeutsch schon gar nicht. Die Auswirkungen auf das weitere Leben im Alltag dieser Menschen ist dramatisch: negative Schulerfahrungen, Diskriminierung, Scham, Geheimhaltung, Täuschung, Minderwertigkeitsgefühl. Man zieht sich zurück und es darf niemand von seiner Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben erfahren, oft nicht einmal die eigene Familie. Bei diesem Ergebnis drängt sich natürlich folgende Frage auf: Wie kann es sein, dass Menschen, die das Pflichtschulsystem durchlaufen haben, ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeit entlassen werden können? Experten der Erwachsenenbildung beantworten das so: Im heutigen Schulsystem sei eine ausreichende Förderung aller betroffenen Schüler nicht vorgesehen und möglich. Entweder es werden die individuellen Bedürfnisse und Schwächen gar nicht erkannt oder es fehlen die Ressourcen für eine individuelle Betreuung. Außerdem könnten Vernachlässigungen durch das Elternhaus nicht immer ausgeglichen werden. Und es ist auch sehr schwierig, aus dem Teufelskreis der negativen Schulerfahrungen auszubrechen. Das erfordert sehr viel Mut, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Das Gehirn von Analphabeten sieht anders aus als das Gehirn eines Lesers. Auf dieser Grundlage wurde eine Studie mit zwölf portugiesischen Frauen durchgeführt, die zur Hälfte Analphabetinnen waren. Den Frauen wurde aufgetragen etwas Einfaches zu tun: Sie sollten portugiesische Wörter wiederholen - oder Pseudowörter ohne Sinn, die sich an die Sprachstruktur halten. Beide Frauengruppen verfügten über einen vergleichbar großen Wortschatz. Die Analphabetinnen hatten jedoch besondere Schwierigkeiten mit den Pseudowörtern, die sie häufig mit ihnen bekannten Wörtern verwechselten. So sagten sie z. B. cabeza (Kopf) statt capeta oder gravata (Krawatte) statt travta. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Wissen, dass der Leseerwerb den phonologischen Kode bereichert. D.h. mit dem Erlernen des Alphabets bringt man sich auch bei, die Laute in ihre einzelnen Komponenten (die Phoneme) zu zerlegen. Wer des Lesens mächtig ist, beherrscht somit einen universellen phonologischen Kode, der es ermöglicht, auch Pseudowörter besser im Gedächtnis zu präsentieren. Da den Analphabeten dieser Kode fehlt, können sie sich nur auf Analogien mit schon bekannten Wörtern stützen. Die bildgebenden Verfahren zu dieser Studie zeigten, dass es fast keinen Unterschied bei den Wörtern und den Pseudowörtern gab. Bei den lesenden Probandinnen hatte der Schulbesuch die Reaktionen auf die Pseudowörter tiefgreifend verändert. Die gravierendste Änderung befand sich im Bereich des linken vorderen Insellappens, sehr nahe am Broca-Areal, das beim Kind während der Leseentwicklung aktiviert wird. Durch die Alphabetisierung verändern sich beim Hören von Sprache aktivierte Regionen im Gehirn und somit auch die Hirnanatomie. Einige dieser Hirnveränderungen sind für die vergrößerte Spanne des Gedächtnisses speziell für neue oder wenig vertraute Wörter verantwortlich, also alles was wir im Schulunterricht lernen. Das wiederum bedeutet, dass d
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Intrinsische Lesemotivation. Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten von bibliotherapeutischen Aktivitäten, Silvia Wagner
- Sprache
- Erscheinungsdatum
- 2018
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- Titel
- Intrinsische Lesemotivation. Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten von bibliotherapeutischen Aktivitäten
- Sprache
- Deutsch
- Autor*innen
- Silvia Wagner
- Verlag
- 2018
- Einband
- Paperback
- ISBN10
- 3959930577
- ISBN13
- 9783959930574
- Kategorie
- Lehrbücher, Pädagogik, Skripten & Universitätslehrbücher
- Beschreibung
- Kapitel 2.4, Das Gehirn eines Analphabeten: Eine Studie aus 2013 ergab, dass es in Österreich fast eine Million Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren gibt, die völlig unzureichend lesen und schreiben können. Das bedeutet, dass es auch in unserem Land 17,1 Prozent funktionale Analphabeten gibt. Damit liegt Österreich bei der Lesekompetenz unter dem Durchschnitt jener OECD- Länder, die an dem internationalen Vergleich teilgenommen haben, so der Originalwortlaut aus dem Artikel der Presse. 100.000 Menschen konnten wegen ihrer geringen Lese- und Schreibfähigkeit an der Studie gar nicht teilnehmen. Diese Form von Analphabetismus darf man sich aber nicht so vorstellen, dass die Betroffenen überhaupt nicht lesen oder schreiben können. Sie können Buchstaben, einzelne Wörter und kurze Sätze sehr wohl erfassen, ganze Textstellen aber nicht verstehen und komplizierte Briefe oder Behördendeutsch schon gar nicht. Die Auswirkungen auf das weitere Leben im Alltag dieser Menschen ist dramatisch: negative Schulerfahrungen, Diskriminierung, Scham, Geheimhaltung, Täuschung, Minderwertigkeitsgefühl. Man zieht sich zurück und es darf niemand von seiner Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben erfahren, oft nicht einmal die eigene Familie. Bei diesem Ergebnis drängt sich natürlich folgende Frage auf: Wie kann es sein, dass Menschen, die das Pflichtschulsystem durchlaufen haben, ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeit entlassen werden können? Experten der Erwachsenenbildung beantworten das so: Im heutigen Schulsystem sei eine ausreichende Förderung aller betroffenen Schüler nicht vorgesehen und möglich. Entweder es werden die individuellen Bedürfnisse und Schwächen gar nicht erkannt oder es fehlen die Ressourcen für eine individuelle Betreuung. Außerdem könnten Vernachlässigungen durch das Elternhaus nicht immer ausgeglichen werden. Und es ist auch sehr schwierig, aus dem Teufelskreis der negativen Schulerfahrungen auszubrechen. Das erfordert sehr viel Mut, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Das Gehirn von Analphabeten sieht anders aus als das Gehirn eines Lesers. Auf dieser Grundlage wurde eine Studie mit zwölf portugiesischen Frauen durchgeführt, die zur Hälfte Analphabetinnen waren. Den Frauen wurde aufgetragen etwas Einfaches zu tun: Sie sollten portugiesische Wörter wiederholen - oder Pseudowörter ohne Sinn, die sich an die Sprachstruktur halten. Beide Frauengruppen verfügten über einen vergleichbar großen Wortschatz. Die Analphabetinnen hatten jedoch besondere Schwierigkeiten mit den Pseudowörtern, die sie häufig mit ihnen bekannten Wörtern verwechselten. So sagten sie z. B. cabeza (Kopf) statt capeta oder gravata (Krawatte) statt travta. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Wissen, dass der Leseerwerb den phonologischen Kode bereichert. D.h. mit dem Erlernen des Alphabets bringt man sich auch bei, die Laute in ihre einzelnen Komponenten (die Phoneme) zu zerlegen. Wer des Lesens mächtig ist, beherrscht somit einen universellen phonologischen Kode, der es ermöglicht, auch Pseudowörter besser im Gedächtnis zu präsentieren. Da den Analphabeten dieser Kode fehlt, können sie sich nur auf Analogien mit schon bekannten Wörtern stützen. Die bildgebenden Verfahren zu dieser Studie zeigten, dass es fast keinen Unterschied bei den Wörtern und den Pseudowörtern gab. Bei den lesenden Probandinnen hatte der Schulbesuch die Reaktionen auf die Pseudowörter tiefgreifend verändert. Die gravierendste Änderung befand sich im Bereich des linken vorderen Insellappens, sehr nahe am Broca-Areal, das beim Kind während der Leseentwicklung aktiviert wird. Durch die Alphabetisierung verändern sich beim Hören von Sprache aktivierte Regionen im Gehirn und somit auch die Hirnanatomie. Einige dieser Hirnveränderungen sind für die vergrößerte Spanne des Gedächtnisses speziell für neue oder wenig vertraute Wörter verantwortlich, also alles was wir im Schulunterricht lernen. Das wiederum bedeutet, dass d