Diese Geschichten wurden für Zeitungen und Magazine geschrieben und von diesen
veröffentlicht, in einer Zeit, als es noch keine Handys und kein Internet gab
und bei uns nicht einmal ein Fernsehen. Man las solche Geschichten also
einfach aus Langeweile oder zur Unterhaltung oder vielleicht auch nur, um sich
bei der Nase zu nehmen. Denn beinahe naturgemäß kommen da Kraut und Rüben
durcheinander. Aber eins steht in oder wenigstens hinter all diesen
Geschichten: Neben der oft banalen oder blödsinnigen oder auch grausamen und
bluttriefenden sogenannten Realität gibt es noch eine andere Wahrheit, die es
herauszufinden gilt ... oder zu verdrängen. Wie gesagt: Was tut man nicht
alles, wenn es kein Internet und keine Handys und bei uns nicht einmal ein
Fernsehen gibt?
Der „Held“ dieser Geschichte ... nein: er ist alles eher als ein Held ... also der „Datensammler“, der „Tatsachensammler“ ... aber es sind ja keine „Tatsachen“, nicht einmal Daten, was sich da mit scheinbarer Konsequenz eins nach dem anderen abspielt, als gäbe es da einen zwingenden Zusammenhang. Dabei sind es bestenfalls Vermutungen, „Verdächtigungen“, die dieser „Held“ zu Papier bringt. Um erst zuletzt zu begreifen, dass jede „Wirklichkeit“ nicht mehr als eine Möglichkeit ist ... wie, wann und wo sich das zuträgt, wovon hier die Rede ist. Wenn der „Held“ dieses Berichts sein bisheriges Leben Revue passieren lässt, kann er damit beginnen, was alles er erreicht hat: in jungen Jahren schon in einer vielversprechenden Stellung in einem wichtigen Staatsamt ... verlobt mit einer jungen Frau, die nicht nur sehr hübsch, sondern Tochter aus sehr reichem Haus ist, wo ihn neue Aufgaben, neue Chancen und neuer Reichtum erwarten. Alles so vielversprechend, bis zu dem Augenblick ... ... bis zu dem Augenblick, da er im Gerümpel einer zu seiner Wohnung gehörenden Mansarde ein Stück Eisen, nein: nicht einfach Eisen, sondern eine Lafette und das dazu gehörende Maschinengewehr entdeckt. Direkt auf die unten vorbeiführende Mariahilfer Straße gerichtet, über die heute oder morgen oder übermorgen, jedenfalls dieser Tage noch, der aus der UdSSR angereiste Staatsgast, kein Geringerer als Nikita Chruschtschow fahren wird, auf dem bei diesen Gelegenheiten üblichen Weg von seiner Suite im Hotel Imperial hinaus zum Schloss Schönbrunn. Klar ist sogleich: Hier wird ein Attentat vorbereitet! Aber von wem? Seinen Feinden hierorts, glühenden Antikommunisten, zusammen mit dem hiesigen Geheimdienst? Oder von seinen eigenen Leuten, die ihn hier beiseite schaffen wollen? Und was soll er, der Held oder Unheld dieser Geschichte jetzt tun? Anzeige erstatten, bei Polizei oder dem hiesigen Geheimdienst? Also das Attentat verhindern? Oder geschehen lassen? Da müsste man vorher wissen, wer dieses Attentat verüben will. Wer wofür oder wo steht. Vor allem aber: wo man selbst, der Held oder Unheld dieser Geschichte steht. Auf die Suche nach dem Attentäter, aber mehr noch auf die Suche nach sich selbst sieht sich der Held oder Unheld dieser Geschichte gestoßen. Denn wo und wofür steht er selbst? Was soll er verhindern oder geschehen lassen und somit selbst betreiben? Und warum dieses oder warum jenes? Und so geht es schließlich nicht um ein Attentat, das geschieht oder nicht geschieht, sondern um den Platz, den der Held oder Unheld dieser Geschichte für sich finden muss.
Dieser Roman, geschrieben Anfang der 1960er Jahre, spielt in Bangkok, zu der Zeit, als der Vietnamkrieg in seine letale Phase geriet. Der Protagonist dieser Geschichte, ein Journalist, wird von seiner Zeitung mit dem diffusen Auftrag hierher geschickt, herauszufinden was hinter diesem immer schlimmer, immer blutiger ausufernden Krieg steht. Das ist die Zeit, da immer mehr amerikanische Soldaten und Offiziere hierher geschaufelt werden (oft sogar samt ihren Frauen oder Geliebten), um hier „aufzuräumen“ und „die Welt zu retten“ oder zu Krüppeln geschossen zu werden oder einfach zu verrecken. Schnell wird der Held dieser Geschichte in das undurchsichtige Netz der Geheimdienste oder von echten oder falschen Idealisten gezogen. Zuerst sollen nur irgendwelche obskuren Dokumente gesichert und „gerettet“, aufbewahrt oder weitergegeben werden ... schließlich geht es um das nackte Leben. Und um den Tod, aus dem neues Leben steigt.
Ernst Brauner schreibt: Wie bei allen jungen Menschen begann das Schreiben mit
Gedichten. Die sollten in einer Zeitung publiziert werden. Aber: 'Alles - nur
keine Zeitung!' Da war ich 18. Später arbeitete meine erste Frau beim eben
gegründeten österreichischen Fernsehen. Das war damals für mich noch schlimmer
als eine Zeitung. Also: ,Alles - nur kein Fernsehen!' Doch durch neue
Freundschaften kam ein Theaterstück, das ich eben geschrieben hatte (Das
Kreuz), nicht auf eine Bühne, aber ins Fernsehen. Und dann gleich ein zweites,
zum Opernlibretto mutiert, wieder ins Fernsehen (Der Kardinal). Und wieder
über einen Freund, der Dramaturg im Wiener Theater in der Josefstadt war,
gelangte mein nächstes Theaterstück in eine Schreibtischlade dieses Theaters.
Zu einer Aufführung kam es zwar nicht, aber von einem Bühnenverlag wurde es
angenommen und herumgereicht und dann auch in einem Buchverlag gedruckt:
Oratorium für Wölfe. Realiter spielt das Stück zwischen den Gräueln des
Dreißigjährigen Kriegs und dann - fiktiv - als eine Alternative, die in der
Geschichte niemals zustande kam und leider wieder vermutlich realiter nie
zustande kommen wird. Und auch in meinem nächsten Theaterstück Wir, Kaiser von
Haiti geht es vordergründig um einen historischen Ablauf in einem einst
tatsächlich existierenden karibischen Kaiserreich, in dem sich alles so
ereignet hat wie später und heute in den Pseudodemokratien und Defacto-
Diktaturen der jungen, eben den kolonialistischen Ausbeutungen entronnenen
Staaten Schwarzafrikas. Ebenso spielt sich in Rosenbaum, König der Juden eine
besonders schlimme, durch alle Zeiten hinweg wirkende Apokalypse ab: wie Opfer
zu Tätern werden ... auf dem unvermeidlichen Geschichtsweg von Auschwitz zu
den Gemetzeln von Sabra und Shantila, im Libanon, nahe der israelischen
Grenze. Und auch bei anderen meiner Theaterstücke wie in den viel später
geschriebenen Goethe- und Ovid-Paraphrasen Philemons Sohn geht es um
Apokalypsen - oder um Parallelwelten. Aber vielleicht bedeutet letztlich ja
eins auch zugleich das andere.
Ernst Brauner: geboren 1928 in Wien; Studium der Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaften; als Chefredakteur und Verlagsleiter in der Medienbranche tätig. Zuletzt bei Wieser: Struldbrugs. Eine Chronik aus den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrtausends (2008); Die wundersame Päpstin. Ein Schelmenroman (2009); Jenseits von Sodom (2010); Die Mühlfelds (2011); O Böhmerwald! (2012); Srinagar (2013); Parallelwelten (2014); Befreiung (2015); Die Schalen des Zorns, Werkausgabe Band 1 (2015); Der Bund, Werkausgabe Band 2 (2015); Theater Werkausgabe Band 11 (2016).
Terror und Anarchie sind zu Reizworten unserer Zeit geworden. Aber sie sind nur der blutige Vordergrund einer in Wahrheit noch viel unheimlicheren Szenerie, die dieser Roman beschwört und deutet. Auf dem Höhepunkt der Verstrickung erkennt der Erzähler: Terror und Anarchie haben nur oberflächlich mit politischen und sozialen Fakten zu tun. Worum es sich in Wahrheit handelt, darauf gibt „Der Bund“ überraschende Antworten.
In diesen vier miteinander verflochtenen Erzählungen geht es um Menschen, die sich aus selbst geschaffenen Zwängen befreien wollen: Ein Verleger, der die Hälfte seines Besitzes an seine Angestellten verschenkt, um Maler zu werden. Zwei Frauen, die den aus ihrer Bildungslosigkeit resultierenden sozialen Zwängen entkommen wollen. Und ein Richter, der sein Gehör verliert, als er erkennt, dass er die Gitter vor seinen Fenstern selbst angebracht hat.
Dieser Roman spielt zu Beginn des algerischen Freiheitskampfes und während des historisch in dieselbe Zeit fallenden Erdbebens, das eine ganze Stadt – Orléansville – ausgelöscht, einen ganzen Landstrich Nordafrikas zerstört hat. Um Zerstörung also geht es, aus der Neues entsteht, zumindest entstehen könnte – damals wie heute. Orléansville war damals eine Stadt am Rande Europas, Schnittpunkt von Schicksalen zwischen Afrika und der Alten Welt. Da ist Perrin, der kleine Angestellte eines reichen Kolonialisten. Er liebt ein Mischlingsmädchen und steht schon darum zwischen den Fronten. Er will nach Europa zurück und kommt doch nicht los von diesem geheimnisvollen Kontinent, auf den es ihn verschlagen hat. Da sind gewissenlose Abenteurer wie Matour und die alteingesessenen Franzosen wie der Arzt Dr. Fontaignes. Und da sind die jungen revolutionären Moslems wie Abdelkader, die den großen Aufstand vorbereiten. Aber dahinter dringt die Erzählung „ins Herz der Steine und hinter das Geschrei der Basare und greift bis in die Tiefe der Hoffnungen, Schmerzen und Träume“ all dieser Menschen, deren alltägliches Leben mit Liebe, Hass, Abenteuer, Intrigen und Versuchungen im Schatten von Krieg und Naturkatastrophen steht. Kolonialer Befreiungskampf damals oder Arabischer Frühling und IS heute; Algerien oder Syrien und Irak: Nur die Schauplätze und Jahreszahlen haben gewechselt und nur die Etiketten sind ausgetauscht. Damals war es ein Erdbeben, das eine Stadt ausgelöscht hat; heute sind es wir Menschen, die mit Bomben, Giftgas und bestialischen Massakern die selbstbereitete Apokalypse heraufbeschwören. Nicht die Engel aus der Offenbarung des Johannes gießen die Schalen des Zorns über uns. Wir selbst tun das, unverändert über wechselnde Standorte und auswechselbare Jahrzehnte.
Durch Parallelwelten schreitet nicht nur der Held dieses Buches, durch Parallelwelten müssen wir alle, in Parallelwelten existieren wir unser ganzes Leben hindurch. In diesem Buch beginnt das mit der ersten aller Parallelwelten … mit Träumen. Und Kapitel um Kapitel muss die Hauptfigur oder seine Familie durch andere Parallelwelten: Die Bücher, die ein Schriftsteller schreibt. Die Räusche von Drogensüchtigen. Die bluttriefenden Kulissen der Nazizeit … KZs und Kriegsgefangenenlager. Die Parallelwelt eines in Demenz Verfallenden. Vor allem aber die Parallelwelten, die unser aller Leben mehr bestimmen als alles andere: Die Parallelwelten von Mann und Frau. Und so spielt das Buch in mehreren, ineinander verflochtenen Erzählsträngen: Die Geschichte einer zum Alltag werdenden Liebe. Die Geschichte einer unheilbaren Krankheit. Die Geschichte von der schwierigen Niederschrift eines Buches. Fragen über Fragen türmen sich da auf, bis zu der letzten unbeantworteten, unbeantwortbaren Frage: Unser Tod … ist auch der nur ein Eintritt, eine Rückkehr in eine parallele Welt?