Selbst sein
Zwischen Wahrhaftigkeit und Selbstverfehlung






Zwischen Wahrhaftigkeit und Selbstverfehlung
Von der Textauslegung zum Verstehen des Menschen
Die Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen und der Kunst der Interpretation, ändert sich mit deren Gegenstand. In einer klassischen Prägung gilt sie der Auslegung alter Schriften, heiliger Texte, juristischer Dokumente. In erweiterter Form, als allgemeine und universale Hermeneutik, befasst sie sich mit der Erschließung von Texten überhaupt und dem Verstehen der Wirklichkeit als solcher. Als existentielle Hermeneutik schließlich fragt sie nach dem verstehenden Subjekt selbst: Gegenstand einer Hermeneutik des Selbst ist der Mensch als das verstehende und sich über sich selbst verständigende Wesen.
Geteilte Erinnerung, gestohlene Zukunft, geschenkte Zeit
Die Zeit gehört einem nicht nur selbst, sondern ihre Qualität und Gestalt hängen auch von der Umgebung und vom Handeln anderer ab. »Ihr habt uns unsere Zukunft gestohlen« lautet etwa der Protest der Klimajugend. Inwiefern die Zeit nur unzulänglich begriffen wird, wenn nicht auch die Zeit des Anderen miteinbezogen wird, untersucht Emil Angehrn in seinem luziden Essay. Angehrn geht es in seinem Buch darum, das Rätsel und den Sinn der eigentümlichen, nicht selbstverständlichen Figur der Zeit des Anderen aufzuhellen. Dafür sucht er drei unterschiedliche Verhältnisbestimmungen sowohl für sich wie in ihrer wechselseitigen Verflechtung aufzuklären: zum einen das Verhältnis zwischen der Zeit des Selbst und der Zeit des Anderen, zum anderen die Polarität zwischen positiven und negativen Formen und Wertungen des Zeiterlebens und schließlich die interne Differenzierung der Zeit nach den Dimensionen des Vergangenen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen. Die Überlagerung dieser drei Raster resultiert in einem komplexen Geflecht, in dem die Zeitlichkeit der Existenz unter vielfältigen Aspekten hervortritt. Absicht und Herausforderung seiner Untersuchung ist eine Verständigung über das Wesen und die existentielle Bedeutung der Zeit im menschlichen Leben. Wenn von »gestohlener Zukunft«, »geschenkter Zeit« oder »Verstrickung in eine Familienvergangenheit« die Rede ist, wird deutlich, dass sich die Polarität zwischen der eigenen Zeit und der Zeit des Anderen und die affektive Ambivalenz im Erleben der – aufbauenden und zerstörenden, rettenden und bedrohenden – Zeit in vielfältiger Weise überlagern.
Von der Sprachlichkeit des Menschseins
Der Mensch ist das sprechende Lebewesen. So lautet eine der altesten Definitionen des Menschen, die heute - auch mit Blick auf neuere Forschungen zur Tiersprache und zur Computersprache - zu prazisieren und zu begrunden ist: Wie bildet sich die Sprache im menschlichen Leben heraus? Was beinhaltet das Sprachvermogen und welches ist seine existentielle Bedeutung fur den Menschen? Dass der Mensch sich aussern und anderen mitteilen kann, dass er mit Worten die Welt erkunden und erfassen kann, dass er sich uber sich verstandigen kann - all dies gehort zum Wunder der Sprache, das sein Leben im Ganzen durchdringt. Sprache, das zeigt dieser Band, ermoglicht es dem Menschen, ein wahrhaft menschliches Leben zu fuhren.
Wir wurden geboren, und wir werden sterben. Geburt und Tod gehoren zu unserem Leben. In ganz unterschiedlichen Formen und Wertungen werden beide in kulturellen Bildern wahrgenommen. Fur die einen gilt die Geburt als Geschenk, mit ihr verbindet sich die Faszination des Anfangs, mit dem ein neues Leben beginnt, ein neues Licht auf die Welt fallt, eine einzigartige Geschichte anfangt. Anderen erscheint das Geborensein als ungefragtes Geworfensein in das Leben, als Schicksal und Last. Ebenso oszilliert die Erwartung des Todes zwischen Angst und Hoffnung, zwischen der Drohung des Nichts, Befreiung und Erlosung. Vorstellungen vom Ende des Lebens stehen im Zeichen der Vollendung, des Ubergangs in ein anderes Leben, aber auch des Abschiedes, des Verlusts, des blossen Endens ohne Ziel und Erfullung. Das Buch geht der Frage nach, was Geburt und Tod fur die menschliche Existenz bedeuten und in welcher Weise sie in der Mitte unseres Lebens anwesend sind.
Zukunft zwischen Furcht und Hoffnung
Was der Mensch ist, sagt die Geschichte. In der Geschichte gewinnt der Mensch seine bestimmte Identität, in der Besinnung auf Geschichte verständigt er sich über sich selbst. Geschichte ist ein Medium der Identitätsbildung und der Selbstvergewisserung. Dies gilt für den Einzelnen wie für Gruppen und Gesellschaften und für die Menschheit im Ganzen. Der Zusammenhang von Identität und Geschichte wird in vielen Disziplinen thematisiert. In profilierter Weise haben sich Philosophie und Psychologie mit ihm beschäftigt. Die Psychologie interessiert sich für die Art und Weise, wie die kognitiven und praktischen Fähigkeiten, die sozialen und kulturellen Lebensformen des Menschen sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausbilden. Die Philosophie fragt nach der Bedeutung, welche die Geschichte für den Menschen hat, der durch seine Vergangenheit bedingt ist, handelnd in die Geschichte eingreift und die Frage nach dem Sinn der Geschichte stellt. Der Philosoph Emil Angehrn und der Psychologe Gerd Jüttemann erörtern im interdisziplinären Gespräch das vielschichtige Verhältnis von Identität und Geschichte. Sie untersuchen, inwiefern der Mensch in Geschichte(n) verstrickt ist und über Geschichte zu dem wird, der er ist. Die Begriffe der Geschichte und der Identität stehen dabei selbst zur Diskussion.
Selbsttäuschung ist ein komplexes und paradoxes Phänomen, das schwer zu fassen ist. Die Frage, wie jemand sich selbst täuschen kann, bleibt offen und es gibt Debatten darüber, ob echte Selbsttäuschung überhaupt existiert. Verhaltensweisen, die mit Selbstverhüllung und Erkenntnisverweigerung verbunden sind, spielen eine bedeutende Rolle im menschlichen Leben. Sie können für den Einzelnen sowohl unvermeidlich als auch nützlich sein, sich positiv auf die Lebensführung auswirken oder sogar menschenfreundlich erscheinen. Gleichzeitig können Selbsttäuschungen jedoch auch zu Leiden, Selbstbehinderungen und moralischen Dilemmata führen. Literarische Figuren wie Homo faber und Alexej Karenin verkörpern Selbsttäuschung auf eindrucksvolle Weise. Der vorliegende Band untersucht Selbsttäuschung im Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, zwei Disziplinen, die sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen. Hierbei werden Erkenntnis- und Handlungstheorien, Rationalitätstheorien sowie existenzphilosophische Ansätze betrachtet. Die Beiträge analysieren die Ursachen, Motive, Formen und Zwecke der Selbsttäuschung, deren Bedeutung im menschlichen Leben sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Überwindung und deren Einfluss auf das Menschenbild.
Wege der Erinnerung
Das Buch erkundet die Wege und Umwege des Gedächtnisses in Philosophie und erzählender Literatur und untersucht die existenzielle Bedeutung der Erinnerung. Diese wird in bedeutenden Werken der literarischen Moderne, insbesondere bei Marcel Proust, aber auch bei Nabokov, Semprun, Modiano und Kurzeck, prägnant zum Ausdruck gebracht. Es stellt sich die Frage, warum der Mensch nach Erinnerung verlangt und was die Suche nach der verlorenen Zeit anstrebt. Lebenserinnerung verfolgt zwei Ziele: das Anhalten der zerrinnenden Zeit und die Möglichkeit, sich im eigenen Leben gegenwärtig zu werden. Sie wehrt sich gegen das Vergehen und Vergessen, indem der Mensch in ihr nach sich selbst sucht und versucht, sein Leben zu verstehen. Erinnerung zeigt sich in vielfältigen Formen. Das Vergangene kann in spontanen Bildern zurückkehren oder verschlossen sein, sodass nur die beharrliche Arbeit des Gedächtnisses Zugang gewährt. Erinnerungen können in Leidenserfahrungen und Glücksversprechen verwurzelt sein. Sich erinnern ist ein ursprüngliches menschliches Bedürfnis und ein zentraler Bestandteil eines gelingenden Lebens.
Konstellationen der Erinnerung
Die Herausforderung der Erinnerung besteht nicht nur darin, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken, sondern auch darin, dass das Vergangene oft dunkel und unerkennbar bleibt. Es kann ein Unerledigtes enthalten, das sich der Erinnerung widersetzt und gleichzeitig nach ihr verlangt. Verschiedene Ansätze der Geschichtsreflexion beschäftigen sich mit diesem unerledigten Vergangenen. Kritische Historie gibt unterdrückten Geschichten eine Stimme, während Kulturgeschichte das ungenutzte Potenzial gescheiterter Neuerungen erforscht. Psychoanalyse betrachtet, wie Erfahrungen, die nicht verstanden wurden, nachträglich verfestigt werden. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit soll dem Verdrängten zur Artikulation verhelfen. Biographische Reflexion kann verschüttete Erlebnisse aufgreifen und dem nicht gelebten Leben Ausdruck verleihen. Zum Vergangenen gehören nicht nur die realen Ereignisse, sondern auch das Marginalisierte und Unabgegoltene. Diese Aspekte stellen sowohl eine Grenze als auch eine Forderung an das Gedächtnis dar und verdeutlichen die Schwierigkeit und Dringlichkeit des Erinnerns. Dem Vergangenen gerecht zu werden bedeutet, unerfüllte Ansprüche und abgebrochene Entwicklungen ernst zu nehmen und die Vergangenheit für die Zukunft zu öffnen.