Inspiriert vom klassischen Tanka entfalten sich die »memogramme« Herbert J. Wimmers in 144 Triplevariationen zu einem einzigartigen Tanz von Sprachkunst und Wortwitz. Süffig wie Shōchū breiten sich diese Texte wie Wellen aus und entwickeln über den ihnen eigenen Rhythmus einen hypnotischen Sound, dem man sich nicht entziehen kann: ein zwingendes Werk, das sich in seiner Zusammenschau von Ost und West auf das Wesentliche konzentriert und seine Themen auf das Wirkungsvollste verdichtet.
Wer in Herbert J. Wimmers neuem Buch selbst eine Leseanleitung finden möchte, möge auf Seite 21 zum Begriff 031 blättern: wörterbuch, ein im wahrsten Wortsinn sprechendes Buch:»was schlägst du vor? fragt der benutzer sein altes wörterbuch. du musst mich was konkretes fragen, antwortet es. weiss ich nicht, lass mich in dir blättern. gern, irgendwas findet sich immer in mir.«Wären die 336 short stories alphabetisch geordnet, wäre der metallhasenalltag auch als Lexikon des Alltags zu benutzen, eine Nutzung, die aber jedem Leser, jeder Leserin trotzdem abseits des Alphabets offen steht: von armbanduhr bis waschmaschine. Auf diese Art entsteht ein Feld poetisierter Beobachtungen, die von Objekt zu Objekt schweifen. Auch kulinarische Begriffe sind zahlreich vetreten: von apfelstrudel bis wurstrad, wobei den madeleines (mit 36 Eintragungen) eine besonders ausführliche Rolle zukommt:»magritte-madeleines fallen aus dem himmel. sie tragen kleine bowlerhüte und schweben, mit ihren regelmässigen abständen ein streifenmuster bildend, in eine landschaft ohne gebäude und menschen. geschmackvolle bröselschauer fallen wie geschmacklose sternschnuppen. aus dem sternbild der fische können (g)astro-logisch nur sternschuppen fallen.«Nachgeradezu logisch, dass madeleines einen Verweis auf Marcel Proust provozieren bzw. auf den Proust-Effekt, der besagt, dass durch »geschmacks- oder geruchserlebnisse plötzlich ganz bestimmte erinnerungen« hervorgerufen werden. Ein eigenes zusammenhängendes Erzählgelände wie bei den madeleines bilden verstorbene und lebende literarische Weggefährten, denen mit 12 Eintragungen unter der Überschrift labyrinth zitierend Reverenz erwiesen wird. Die short stories spielen in einer »gegenwart, die sich in der erinnerung verfestigt, die erinnerung ist gegenwart«. In diesem Sinn werden wir die Mund-Nasen-Schutz-Masken, die öfter, aber nicht zu oft in den Texten zur Sprache kommen, nie mehr wieder los werden: eingewachsen, eine zweite haut, mundlosegesichter, nasenlose gesichter, ich gewöhnemich daran. der gegenseitige schreck kommtbeim abnehmen, beim ablösen.
Text-Raum-Zeiten und Zeit-Text-Räume – Gegenwarten sprechen kontinuierlich miteinander – in Gedichten, als Gedichte und Gedichtartigkeiten. SCHON ZEIT IM KONTINUUM ist der Abschlussband des GANZE TEILE-ELFRIEDE-GERSTL-Zyklus; auch in seinen 100 Arbeiten lassen sich gut Entwicklungen und Metamorphosen erkennen: aus Trauer wird Freude, das erste Jahr nach dem Tod der Freundin öffnet sich in eine kommunikationsfreudige und kontinuierliche Textproduktion, die bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Stichwort Freude: was Neues und Überraschendes in jedem Schreibvorgang zu entdecken und im nächsten Text unverzüglich auszuführen, ist der Motor des Schreibens. Das unausgesprochene Motto all dieser Gedichtartigkeiten lautet: DICHTEN HEISST OFFEN LASSEN.
"Gesellschaftspolitisch überhöht fragt der Text: Wie schaut es momentan/gegenwärtig aus, wenn die Rollen/Rahmen porös werden, wenn die Übergänge und die auftretenden Übergangsformen ihre Fließmuster permanent verändern?"--Page 4 of cover
02 gewichtgedicht das gewicht eines gedichts lässt sich ermessen nicht messen von jedem von jeder nach seinem nach ihrem vermögen was es wiegt hat es nicht was es hat wiegt nichts unvergleichlich wie eine metapher des unvergleichlichen im gleichnis von unvergleichlichkeiten im vergleich
blaunsteiner, die erfahrungsfreudige Bewusstseinsfigur aus INNERE STADT: ROMAN trifft in INTERFER auf blaunsteinerin. Die Intensität ihrer Begegnungen liegt in den Momenten ihres Kommunizierens: sie werden, sind und bleiben »durchlässig füreinander«, sie wechselwirken aufeinander ein und sich ineinander aus. Sie leben im HIER & JETZT, mitten in Wien, mitten in den alten und neuen Medien, mitten in den unwiederholbaren Augenblicken von Interferenz und Synchronizität. In der Physik spricht man von destruktiver Interferenz, wenn sich Wellen gegenseitig auslöschen, von konstruktiver Interferenz, wenn sie sich gegenseitig verstärken. Vielleicht bleibt es den LeserInnen überlassen zu beurteilen, welche Interferenz zwischen blaunsteiner und blaunsteinerin überwiegt – was auch ganz allgemein für die bei Wimmer aufeinander folgenden Sequenzen gilt. Wenn er sagt, »ich bin ich sowieso, wer immer ich auch bin«, sagt sie, »ich will ausser mir sein, ohne mich«. Die Dynamik zwischen den Figuren spiegelt sich auch in der Poetik des Textes: Auf den ersten, INTERFERENZEN genannten Abschnitt folgen HOHLRÄUME / HOHLTRÄUME, die in den dritten Abschnitt MISSVERSTÄNDNISSE münden. Die Interferenzen werden zu Überlagerungen von Bedeutungsfeldern, die eben auch zu Hohlräumen und Missverständnissen führen können, aber nicht müssen: »das medium beeinflusst kontexte, die wechselwirken.« In diesem Sinn kann man INTERFER BLAUNSTEINERBUCH als ein offenes, offen seine Entwicklungen herzeigendes Werk und als eine poetische Anordnung verstehen, die versucht, noch den Augenblick des Erzählens selbst lesbar zu machen. Einen Augenblick, der die Unwiederholbarkeiten der Gegenwart dokumentiert und reproduziert: Zeitpunkte und Zeitabläufe, Orte, Menschen, ihre Missverständnisse und ihre Virtualitäten überlagern sich – so musterhaft wie einzigartig.
Transparenz und Überlagerung sind das Ergebnis der bildpoetischen Verfahrensweise Marion Steinfellners. Vielfache Farbschichtungen nehmen in sich auf, was die Augenblicke an Wirklichem und Metaphorischem hergeben: Blütenteile und Sprachpartikel, Formen und Volumen, Wendungen und Antworten. Fragil und dauerhaft zugleich erscheint in den Bildern, die in direkter Kommunikation mit den Gedichten entstanden sind, was permanent durchscheint: die Dauer des Flüchtigen, höchst sensibel und entschlossen realisiert.
'DER BISCHOF UND DIE ÄBTISSIN LIEGEN TOT IM GRAS DES KLOSTERGARTENS. DAS BLUT IST SCHWARZ WIE DIE NACHT. LANGSAM WIRD ES HELL. DIE NOVIZIN SCHLÄFT IN IHRER ZELLE. (…) ANFANGS SCHEINT DEN KRIMINALERN JEDER UND JEDE VERDÄCHTIG.' Doch die Novizin ist die einzige Bewohnerin des Klosters und, da sie während der Tat schlief, 'KEINE ZEUGIN'. Dass 'DIE NOVIZIN BIS AN IHR LEBENSENDE IMMER WIEDER VON DEN SCHRECKLICHEN EREIGNISSEN IN DER MORDNACHT TRÄUMEN' wird, generiert in weiterer Folge den Thriller-Text, in dem bald 'DIE KRIMINALER AM TOTEN PUNKT ANGELANGT' sind. Der Text ist in 167 Abschnitte gegliedert, die kontinuierlich zwischen der in VERSALIEN gesetzten Kriminalhandlung und einer in kleinschrift gesetzten Reflexionserzählung wechseln. Den Traditionen des Sprachspiels mit und als Text verpflichtet, hat sich Herbert J. Wimmer für seine neueste Prosa die Gattung des Thrillers als Versuchsanordnung und Spielgelände ausgesucht. Anhaltende Irritation treibt die doppelte Erzählung voran: Der Autor, als Kind irritiert von den Erzählungen realer schrecklicher Ereignisse – einem ungelösten Doppelmord aus der Zeit des Austrofaschismus –, entwickelt im Parallelschnitt/Parallelschritt die Geschichte einer Detektivin, in der Beobachtende und Beobachtete – in detektivgeschichtlicher Gestimmtheit – innig aufeinander bezogen bleiben, ohne je einen Kriminalfall zu realisieren. Jede Erinnerung ist eine Erzählung und aus jeder Erzählung resultiert Vergangenheit, und jede Vergangenheit löst Irritationen aus. Die Wirklichkeiten der Fiktion und die Fiktionen der Wirklichkeiten thrillern durch den Text, aus dem ein Bewusstsein erwächst, das die Gegenwart als Resultat von anhaltenden Irritationen begreift. 'spiel mir das lied vom text' – den lustvollen Sprachspielen im Mikrokosmos der Worte entspricht das konzeptionelle Experimentieren im Makrokosmos der literarischen Genres. Die wirklichkeitsverfestigenden Rituale der Kriminal- und Detektivgeschichten werden einer konsequenten Beobachtung unterzogen. Die fortlaufenden Textverschränkungen transformieren Spannung in andauernde Irritation – eine Irritation, die wiederum Spannung erzeugt. Herbert J. Wimmers Thriller TOTE IM TEXT lässt sich in diesem Sinn als erzählerisches Umspannwerk verstehen.