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Thomas war 25 und schon der große, blonde Mann, als den du ihn kennst. Ich war 18, und Conny hatte noch keinen Namen, weil sie noch nicht geboren war, aber sie war fast geboren und hat die einzige Reise mitgemacht, die wir als Familie je zusammen unternommen haben: unsere Flitterwochen 1976. Wir sind nach Sachsen gefahren, in ein Dorf, wo die Leute einen so verqueren Dialekt sprachen, daß wir meinten, unsere Ohren müßten abgestandenes Bier schlürfen, in dem noch ein paar Kippen schwammen. Die Landschaft sollte das wieder wettmachen. Es gab einen breiten, reissenden, von Felswänden umschlossenen Fluß und staunenerregende Ausblicke, die Wanderer von winzigen gußeisernen Brücken zwischen den Felsvorsprüngen bewundern konnten. Nur wir nicht, ich war zu schwanger zum Klettern, und Thomas wich nicht von meiner Seite. Wenn er mich anschaute, wurde ich im Innern ganz weich, als würde ich von allen begehrt. Wie eine Banane, etwas, das geschält und langsam verspeist werden will, für das man schon auf Verdacht Schlange steht. Und das Baby in mir betete er an. In unserem kleinen Zimmer betrachtete er durch die Laken hindurch meinen Bauch und drehte sich dann weg. Ich glaube, er hat geweint, und das war mir unangenehm. Thomas war schon immer ein stiller Mensch, aber dort, im Angesicht der Felsen und des Flusses, sprach er noch weniger als sonst. In seinem Schweigen lagen Gedanken von größerem Wert als alle Worte. Mit seinem stolzen und tiefen Wesen war er für mich ein Held. Und sein Kind würde gleichfalls ein Held sein. Vielleicht war ich selbst ein Held. Ich meine, das war das Gute an der damaligen Zeit, auch wenn es niemand laut aussprach - jeder konnte ein Held sein. Und wir waren aus Monksdorf, einem Dorf, das erfolgreich Fünfjahrespläne aufstellte und durchführte. Sollte ich mich von einem Dorf in Sachsen einschüchtern lassen, dessen Zukunft in der Vergangenheit lag? Wir kamen auch aus einem bedeutenden Ort, bedeutender als wir selbst. Wir waren stolz darauf, auf dem Land zu leben, und bis auf Thomas' Schwester war nie jemand aus Monksdorf weggegangen. Wir hatten sogar Nachbarn, die heimlich Privatwirtschaft trieben - erinnerst du dich an die vielen Karnickelställe hinter der Scheune deines Großvaters? Und aus Kochs Schuppen rollte immer mal wieder ein neuer Wartburg - Monksdorf ist die Wiege des Auto-Recycling! Reine Privatunternehmen, und irgendwie hat jeder im Dorf davon profitiert. Wir haben nicht zum Wohle des Staates Bergsteiger geschröpft oder uns darüber verrückt gemacht, ob die Ausflugsschiffe auch den Fahrplan einhalten. Wir haben nicht gesagt, daß unser Dialekt besser ist, wir haben es gehört. Ich war hochschwanger, bei jedem Schritt nach vorn schlingerte ich von einer Seite zur anderen. Ich konnte nicht hoch hinaus, auf niedrigen Pumps zu balancieren war das Äußerste, die Bergwanderungen mußten wir uns aus dem Kopf schlagen und froh sein, wenn wir auf flachen Flitterwochenstraßen Spazierengehen konnten. Doch selbst im Dorf sah jede Ecke so aus wie eine Ansichtskarte bei mir zu Hause: In Sachsen war alles pikobello.

Parameter

ISBN
9783821806884
Verlag
Eichborn

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Buchvariante

2001

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