Frohe Weihnachten und wunderbare Buchmomente!

Bookbot
1/4

Der dritte Sohn

Autoren

Mehr zum Buch

AuszugNiemals ziert ein Stern dieses Land mit des Poeten Licht funkelnder Mysterien, noch sendet die Sonne ihre wärmenden und belebenden Strahlen hierher. Dies ist das Unterreich, eine geheime Welt unter der bewegten Oberfläche der Vergessenen Welten, deren Himmel von einer Decke aus kühlem Stein gebildet wird und deren Mauern die graue Sanftmut des Todes im Fackelschein der zufällig hierhergelangten törichten Oberflächenbewohner zeigen. Dies ist nicht ihre Welt, nicht die Welt des Lichts. Wer uneingeladen hierherkommt, kehrt meistens nicht zurück. Und jene, die in die Sicherheit ihrer Behausungen an der Oberfläche entkommen können, kehren verändert zurück. Ihre Augen haben die Schatten und das Dunkel gesehen, das unausweichliche Verhängnis des Unterreichs. Dunkle Gänge schlängeln sich in Windungen durch das gesamte dunkle Reich und verbinden große und kleine Höhlen mit hohen und niedrigen Decken miteinander. Wälle aus Steinen, die so spitz sind wie die Zähne eines schlafenden Drachen, starren in stummer Bedrohung herab oder erheben sich als Hindernis im Weg des Eindringlings. Hier herrscht eine tiefe und ahnungsvolle Stille, die angespannte Ruhe eines Diebes bei der Arbeit. Zu häufig ist der einzige Laut, der einzige Hinweis für Reisende im Unterreich darauf, daß sie ihr Hörvermögen nicht vollständig verloren haben, ein entferntes und widerhallendes Tropfgeräusch, das wie der Herzschlag eines Tieres klingt und durch die stummen Steine zu den tief im Unterreich gelegenen Teichen kühlen Wassers abgleitet. Was sich unter der ruhigen onyxähnlichen Oberfläche dieser Teiche befindet, kann man nur erahnen. Welche Geheimnisse den Tapferen und welche Schrecknisse den Narren erwarten, kann nur die Phantasie offenbaren - bis die Stille zerstört wird. Das ist das Unterreich. Hier gibt es Höhlen voller Leben, Städte, die oft so groß sind wie die an der Oberfläche. Hinter jeder der unzähligen Biegungen und Windungen im grauen Stein könnte ein Reisender plötzlich in das Umfeld einer solchen Stadt geraten, die einen starken Kontrast zu der Leere der Gänge bildet. Aber diese Orte sind keine Zufluchtsorte. Nur der törichte Reisende würde das vermuten. Sie sind vielmehr die Heimstätten der übelsten Völker im ganzen Reich, insbesondere der Duergar, der Kuo-Toa und der Drow. In einer dieser Höhlen, die zwei Meilen breit und tausend Fuß hoch ist, ragt Menzoberranzan drohend auf, ein Monument für die Anderweltlichen und - nicht zuletzt - für die tödliche Anmut, die die Rasse der Drowelfen kennzeichnet. Nach Drowmaßstäben ist Menzoberranzan keine große Stadt. Es leben dort nur zwanzigtausend Dunkelelfen. Wo sich in vergangenen Zeiten eine leere Höhle mit grob gestalteten Stalaktiten und Stalagmiten befand, stehen nun kunstvolle Bauwerke, aneinandergereihte gemeißelte Schlösser, die im stillen Licht der Magie verschwimmen. Die Stadt ist eine Perfektion der Formen, in der kein Stein in seiner natürlichen Form verblieben ist. Dieser Eindruck von Ordnung und Kontrolle ist jedoch nur eine grausame Fassade, eine Illusion, die das Chaos und die Schlechtigkeit, die in den Herzen der Dunkelelfen regieren, verbirgt. Wie ihre Städte sind sie ein wundervolles, schwaches und empfindliches Volk mit strengen und immer wiederkehrenden Grundzügen. Aber die Drow sind die Herrscher dieser unbeherrschten Welt, die Tödlichsten der Tödlichen, und alle anderen Völker beobachten sorgfältig ihren Lebensweg. Die Schönheit selbst verblaßt am Ende des Schwertes eines Dunkelelfen. Die Drow sind die Überlebenden, und dies ist das Unterreich, das Tal des Todes - das Land obskurer Alpträume. Teil 1 Rangordnung In der gesamten Welt der Drow gibt es kein wichtigeres Wort. Es ist die Visitenkarte ihrer - unserer - Religion, das unaufhörliche Sehnen tiefster Gefühle. Ehrgeiz unterdrückt den gesunden Menschenverstand, und das Mitleid wird ihm vor die Füße geworfen. Und das alles im Namen von Lloth, der Spinnenkönigin. Der Aufstieg zur Macht basiert in der Gesellschaft der Drow auf Meuchelmord. Die Spinnenkönigin ist eine Gottheit des Chaos, und sie und ihre Priester innen, die wahren Herrscher der Welt der Drow, betrachten ehrgeizige Individuen, die vergiftete Dolche verwenden, nicht mit Mißgunst. Natürlich gibt es Verhaltensregeln. Jede Gesellschaft muß sie aufweisen. Öffentlich einen Mord zu begehen oder einen Krieg anzuzetteln zieht eine Gerichtsverhandlung nach sich, und die Strafen, die im Namen der Gerechtigkeit der Drow verhängt werden, sind gnadenlos. Einem Rivalen im Tumult einer größeren Schlacht oder in den lautlosen Schatten einer Gasse einen Dolch in den Rücken zu stoßen wird hingegen meistens akzeptiert - wenn nicht sogar gebilligt. Untersuchungen sind nicht die Stärke der Gerichtsbarkeit der Drow. Niemanden kümmert es genug, um sich Gedanken darüber zu machen. Rangordnungen sind das Mittel der Lloth, der Ehrgeiz, den sie dareinsetzt, das Chaos zu fördern, um ihre Drow'kinder' auf ihrem vereinharten Kurs der Selbstbegrenzung zu halten. Kinder? Eher Schachfiguren, für die Spinnenkönigin tanzende Puppen, Marionetten auf den kaum wahrnehmbaren, aber undurchlässigen Fäden ihres Netzes. Alle klettern die Leitern der Spinnenkönigin hinauf, alle jagen ihrer Gunst hinterher, und alle fallen den Jägern ihrer Gunst zum Opfer. Rangordnungen sind der Widersinn der Welt meines Volkes, die Begrenzung unserer Macht innerhalb des Strebens nach Macht. Sie werden durch Verrat gewonnen und bewirken Verrat gegen jene, die sie gewinnen. Diese Mächtigsten in Menzoberranzan verbringen ihre Zeit damit, über ihre Schultern zu sehen, um sich gegen Dolche zu wappnen, die sie in den Rücken treffen könnten. Ihr Tod kommt üblicherweise von vorn. Drizzt Do'Urden Menzoberranzan An einem Oberflächenbewohner hätte er in nur einem Fuß Entfernung unbemerkt vorbeikommen können. Die gedämpften Schritte seiner Eidechse waren zu leicht, um gehört werden zu können, und die geschmeidige und perfekt ausbalancierte Rüstung, die sowohl Reiter als auch Reittier trugen, paßte sich ihren Bewegungen an, als wäre sie ein Teil ihrer Haut. Dinins Eidechse trabte in leichter, aber rascher Gangart dahin, glitt über den aufgebrochenen Boden, die Wände hinauf und sogar an der Decke des langen Tunnels entlang. Eidechsen des Unterreichs mit ihren klebrigen und weichen dreizehigen Füßen wurden gerade wegen dieser Fähigkeit, Stein so leicht wie eine Spinne erklettern zu können, als Reittiere bevorzugt. Das Überqueren harten Untergrundes hinterließ in der hellen Welt der Oberfläche keine verräterischen Spuren. Aber fast alle Lebewesen des Unterreichs besaßen Infravision, die Fähigkeit, im infraroten Spektrum sehen zu können. Schritte hinterließen Hitzerückstände, die leicht verfolgt werden konnten, wenn sie einen vorhersehbaren Verlauf auf dem Boden eines Ganges markierten. Dinin klammerte sich am Sattel fest, als sich die Eidechse eine Strecke an der Decke entlangmühte und dann einen wirbelnden Abstieg zu einem weiter entfernten Punkt vollführte. Dinin wollte nicht verfolgt werden. Es gab kein Licht, an dem er sich hätte orientieren können, aber er brauchte auch keines. Er war ein Dunkelelf, ein Drow mit ebenholzfarbener Haut, ein Stammesverwandter jener Waldbewohner, die an der Oberfläche der Welt unter den Sternen tanzten. Für Dinins außergewöhnliche Augen, die subtile Wärmeabweichungen in lebhafte und farbenfrohe Bilder übertrugen, war das Unterreich alles andere als ein lichtloser Ort. Alle Farben des Spektrums wirbelten vor ihm in dem Gestein der Wände und des Bodens umher, erhitzt durch irgendeinen entfernten Erdspalt oder einen heißen Strom. Die Wärme von Lebewesen war sehr spezifisch und erlaubte es dem Blick des Dunkelelfs, seinen Feind so deutlich und in allen Einzelheiten zu sehen, wie es für einen Oberflächenbewohner nur in hellem Tageslicht möglich war. Normalerweise hätte Dinin die Stadt nicht allein verlassen. Die Welt des Unterreichs war zu gefährlich für Alleingänge, sogar für einen Drowelf. Aber an diesem Tag war es anders. Dinin mußte sichergehen, daß kein unfreundlich gesinnter Drow sein Vorübergehen bemerkte. Ein sanfter blauer magischer Glanz hinter einem in Stein gemeißelten Bogengang zeigte dem Drow an, daß er sich dem Eingang der Stadt näherte, und er verlangsamte den Schritt der Eidechse entsprechend. Nur wenige benutzten diesen engen Tunnel, der sich zum Tier Breche hin öffnete, dem nördlichen Abschnitt Menzoberranzans, der der Akademie vorbehalten war. Und niemand außer den Herrinnen und Herren, den Instruktoren der Akademie, konnte hier hindurchgehen, ohne Verdacht zu erregen. Dinin wurde stets unruhig, wenn er an diese Stelle kam. Von den hundert Tunneln, die sich in die Haupthöhle Menzoberranzans öffneten, war dies der am besten bewachte. Über dem Bogengang stand ein Paar gigantischer Spinnenstatuen in stummer Abwehr. Wenn ein Feind hindurchkam, wurden die Spinnen mit Leben erfüllt und griffen an, und in der gesamten Akademie wurden Alarmanlagen in Gang gesetzt. Dinin stieg ab und ließ die Eidechse einfach an einer Wand in Brusthöhe haften. Er faßte unter den Kragen seines Piwafwi, seines magischen Schutzumhangs, und nahm seine Halsbörse heraus. Ihr entnahm er die Insignien des Hauses Do'Urden, eine Spinne, die mit jedem ihrer acht Beine verschiedene Waffen führte und mit den Initialen 'DN' für Daermon N'a'shezbaernon, den uralten formellen Namen des Hauses Do'Urden, verziert war. 'Warte auf meine Rückkehr', flüsterte Dinin der Eidechse zu, während er die Insignien vor ihr umher schwenkte. Wie bei allen Häusern der Drow enthielten auch die Insignien des Hauses Do'Urden mehrere magische Dweomer, von denen eines den Familienmitgliedern absolute Kontrolle über Haustiere verlieh. Die Eidechse würde unfehlbar gehorchen und selbst dann an ihrem Platz verharren, als wäre sie im Stein verwurzelt, wenn sich eine vorüberhastende Ratte - ihr liebster Happen - nur ein paar Fuß von ihrem Maul entfernt zu einem Nickerchen entschließen sollte. Dinin atmete tief ein und betrat vorsichtig den Bogengang. Er konnte die Spinnen aus ihrer Höhe von fünfzehn Fuß auf ihn hinabblicken sehen. Er war ein Drow der Stadt, kein Feind und konnte ungehindert durch jeden anderen Tunnel gehen, aber die Akademie war ein nicht einschätzbarer Ort. Dinin hatte gehört, daß die Spinnen den Eintritt oft tückisch verweigerten - auch einem nicht eingeladenen Drow. Schrecken und Möglichkeiten sollten ihn nicht aufhalten können, erinnerte sich Dinin. Sein Auftrag war von größter Bedeutung für die Kampfpläne seiner Familie. Den Blick streng nach vorn gerichtet, fort von den turmhohen Spinnen, schritt er zwischen ihnen hindurch und betrat den Boden des Tier Breche. Er trat zur Seite und legte eine Pause ein, zum einen, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe im Hinterhalt lag, und zum anderen auch, um den überwältigenden Blick auf Menzoberranzan zu bewundern. Niemand anderer, weder Drow noch sonst jemand, hatte jemals von diesem Platz aus auf die Stadt der Drow hinabgesehen, ohne ein wundersames Gefühl zu verspüren. Tier Breche war der höchste Punkt auf dem Boden der zwei Meilen großen Höhle, wodurch ein Panoramablick auf den Rest von Menzoberranzan ermöglicht wurde. Das anheimelnde Gelände der Akademie war schmal und umfaßte die drei Gebäude, aus der die Schule der Drow bestand: Arach-Tinilith, die spinnenförmige Schule der Lloth; Sorcere, der anmutig geschwungene, stark gewundene Turm der Magie; und Melee-Magthere, ein eher flaches pyramidenförmiges Gebäude, in dem männliche Kämpfer ihre Kunst erlernten. Jenseits des Tier Breche, durch die verzierten Stalagmitensäulen hindurch, die den Eingang zur Akademie markierten, fiel die Höhle schnell ab und verbreiterte sich zu beiden Seiten bis hinter Dinins Sichtgrenze zu einer weiten Ebene. Die Farben Menzoberranzans stellten sich für die empfindsamen Augen eines Drow dreifach dar. Hitzemuster von verschiedenen Spalten und heißen Quellen wirbelten durch die gesamte Höhle. Purpurfarben und Karminrot, helles Gelb und subtile Blautöne kreuzten sich und gingen ineinander über, zogen sich über die Wände und Stalagmitenwälle hin oder liefen einzeln in sich überschneidenden Linien vor dem Hintergrund des stumpfen grauen Steins entlang. Sehr viel begrenzter als diese allgemeinen und natürlichen Farbeinteilungen im infraroten Spektrum waren die Bereiche intensiver Magie wie bei den Spinnen, an denen Dinin vorbeigegangen war, und die tatsächliche Energie ausstrahlten. Und schließlich waren da die wirklichen Lichter der Stadt, die Feenfeuer und angestrahlten Skulpturen an den Häusern. Die Drow waren stolz auf die Schönheit ihrer Entwürfe, und besonders verzierte Säulen oder mit Künstlerhand perfekt gestaltete Wasserspeier waren fast immer in beständiges magisches Licht getaucht. Sogar aus dieser Entfernung konnte Dinin Haus Baenre, das Erste Haus von Menzoberranzan, ausmachen. Es umfaßte zwanzig Stalagmitensäulen und noch einmal halb so viele gigantische Stalaktiten. Haus Baenre existierte seit fünftausend Jahren, seit der Gründung Menzoberranzans, und in dieser Zeit hatten die Bemühungen um die Perfektionierung seiner Kunst niemals aufgehört. Praktisch jeder Zentimeter des überwältigenden Gebäudes erglühte im Feenfeuer, blau um die äußeren Türme und strahlend purpurfarben um die hohe Mittelkuppel. Das deutlich abgegrenzte Licht von Kerzen, fremd im Unterreich, leuchtete durch einige der Fenster der weiter entfernten Häuser. Dinin wußte, daß nur Priesterinnen oder Zauberer die Feuer als notwendige Bemühung in ihrer Welt der Schriftrollen und Pergamente entzündeten. Das war Menzoberranzan, die Stadt der Drow. Zwanzigtausend Dunkelelfen lebten dort, zwanzigtausend Krieger in der Armee des Bösen. Ein verschlagenes Lächeln breitete sich auf Dinins dünnen Lippen aus, als er daran dachte, daß einige jener Krieger heute nacht fallen würden. Dinin betrachtete Narbondel, die große Mittelsäule, die Menzoberranzan als Zeitmesser diente. Der Narbondel war die einzige Möglichkeit für die Drow, das Verstreichen der Zeit in einer Welt festzuhalten, die ansonsten keine Tage und keine Jahreszeiten kannte. Am Ende jeden Tages brachte der bevollmächtigte Erzmagier der Stadt seine magischen Feuer in das Fundament der Säule. Dort verblieb der Zauber einen Zyklus lang - an der Oberfläche ein ganzer Tag - und sandte seine Wärme nach und nach in die Narbondel genannte Säule hinauf, bis sie im infraroten Spektrum gänzlich rot erglühte. Die Säule war jetzt völlig dunkel und abgekühlt, seit die Feuer des Dweomer erloschen waren. Der Zauber mußte sich auch jetzt im Fundament befinden, überlegte Dinin, bereit, den Zyklus erneut zu beginnen. Es war Mitternacht, die vereinbarte Stunde. Dinin entfernte sich von den Spinnen und dem Tunneleingang und schlich am Rande des Tier Breche entlang, wobei er die 'Schatten' der Hitzemuster an der Wand aufsuchte, die die andersartige Kontur seiner eigenen Körpertemperatur wirksam verbergen würden. Schließlich erreichte er Sorcere, die Schule der Zauberei, und schlüpfte in die enge Gasse zwischen dem geschwungenen Sockel des Turmes und der Außenmauer von Tier Breche. 'Schüler oder Meister?' ertönte das erwartete Flüstern. 'Nur ein Meister darf in Tier Breche im Schwarzen Tod des Narbondel sein Haus verlassen', antwortete Dinin. Eine düster gekleidete Gestalt kam um die Biegung des Gebäudes herum und blieb vor Dinin stehen. Der Fremde verharrte in der üblichen Haltung eines Meisters der Akademie der Drow, die Arme vorgestreckt und an den Ellenbogen gebeugt, die Hände eine über der anderen, fest vor der Brust zusammengepreßt. Diese Pose war das einzige an der ganzen Situation, das Dinin normal erschien. 'Ich grüße Euch, Gesichtsloser', signalisierte er in der stummen Zeichensprache der Drow, einer ebenso detaillierten Sprache wie der gesprochenen. Das Zittern seiner Hände strafte sein ruhiges Gesicht jedoch Lügen, denn der Anblick dieses Zauberers brachte ihn so nah an den Rand seiner Nervenkraft wie niemals zuvor. 'Zweitgeborener des Hauses Do'Urden', antwortete der Zauberer in der Zeichensprache. 'Bringt Ihr meinen Lohn?' 'Ihr werdet entschädigt werden', signalisierte Dinin deutlich, der seine Gelassenheit im ersten aufschäumenden Ansturm seiner Gereiztheit zurückgewann. 'Wagt Ihr es, das Versprechen der Malice Do'Urden, der Mutter Oberin von Daermon N'a'shezbaernon, vom Zehnten Haus von Menzoberranzan anzuzweifeln?' Der Gesichtslose sank zurück, denn er wußte, daß er im Irrtum war. 'Ich bitte Euch, meine Entschuldigung anzunehmen, Zweitgeborener des Hauses Do'Urden', antwortete er und sank in einer Geste der Unterwerfung auf die Knie. Da er sich auf diese Verschwörung eingelassen hatte, befürchtete der Zauberer, seine Ungeduld könnte ihn das Leben kosten. Er war in den heftigen Kämpfen eines seiner eigenen magischen Experimente gefangen gewesen, und diese Tragödie hatte seine gesamten Gesichtszüge zerfließen lassen und nur einen leeren heißen Fleck weißer und grüner Masse zurückgelassen. Die Oberin Malice Do'Urden, die angeblich genauso geschickt wie jeder andere in der ganzen weiten Stadt im Mischen von Tränken und Salben war, hatte ihm einen Funken Hoffnung dargeboten, an dem er nicht achtlos hatte vorübergehen können. Kein Mitleid fand den Weg zu Dinins gefühllosem Herzen, aber das Haus Do'Urden brauchte den Zauberer. 'Ihr werdet Euren Lohn bekommen', versprach Dinin ruhig, 'wenn Alton De Vir tot ist.' 'Natürlich', stimmte der Zauberer zu. 'Heute nacht?' Dinin verschränkte die Arme und dachte über die Frage nach. Die Oberin Malice hatte ihn angewiesen, Alton De Vir zu töten, wenn der Kampf zwischen den Familien begann. Dieses Szenarium erschien Dinin jetzt zu glatt, zu leicht. Der Gesichtslose übersah das Funkeln nicht, das die Glut der hitzeempfindlichen Augen des jungen Do'Urden plötzlich erhellte. 'Wartet, bis das Licht Narbondels seinen Zenit erreicht', antwortete Dinin, und seine Hände formten nervös die Signale, während sein Gesichtsausdruck mehr wie ein schiefes Grinsen erschien. 'Sollte der zum Tode Verdammte vom Schicksal seines Hauses wissen, bevor er stirbt?' fragte der Zauberer, der die bösen Absichten hinter Dinins Anweisungen erahnte. 'Wenn seine Todesstunde naht', antwortete Dinin. 'Laßt Alton De Vir ohne Hoffnung sterben.' Dinin gelangte wieder zu seinem Reittier und preschte den leeren Gang hinunter davon. Er fand einen Nebengang, der ihn durch einen anderen Eingang genau in die Stadt führen würde. Er kam am östlichen Ende der großen Höhle herein, wo sich Menzoberranzans Produktionsbereich befand und keine Familie der Drow sehen konnte, daß er außerhalb der Stadtgrenzen gewesen war, und wo sich nur ein paar unbedeutende Stalagmitensäulen aus dem flachen Fels erhoben. Dinin trieb sein Reittier am Ufer des Donigarten entlang, des kleinen Teichs der Stadt mit seiner moosbedeckten Insel, die eine Herde rinderähnlicher Lebewesen beherbergte, die Rothe genannt wurden. Hunderte von Goblins und Orks sahen von ihren Aufgaben des Hütens und Fischens auf, um das Passieren des Kriegers der Drow mit ihren Blicken zu verfolgen. Da sie um ihre Beschränkungen als Sklaven wußten, achteten sie darauf, Dinin nicht direkt anzusehen. Dinin hätte sowieso nicht auf sie geachtet. Er war zu sehr von der Dringlichkeit des Augenblicks in Anspruch genommen. Als er sich wieder auf den flachen und gewundenen Hauptstraßen zwischen den leuchtenden Schlössern der Drow befand, trieb er seine Eidechse zu noch größerer Eile an. Er näherte sich der südlich-zentralen Region der Stadt, dem Wäldchen aus riesigen Pilzen, das das Gebiet der feinsten Häuser Menzoberranzans markierte. Als er um eine unübersichtliche Biegung kam, ritt er fast eine Gruppe von vier Grottenschraten um. Die riesigen haarigen Goblinwesen hielten einen Moment an, um den Drow zu betrachten, und traten dann betont langsam zur Seite, Die Grottenschrate erkannten in ihm ein Mitglied des Hauses Do'Urden, wie Dinin wußte. Er war ein Adliger, der Sohn einer Hohepriesterin, und sein Nachname, Do'Urden, war der Name seines Hauses. Von den zwanzigtausend Dunkelelfen in Menzoberranzan waren nur ungefähr tausend Adlige, die Kinder der siebenundsechzig anerkannten Familien der Stadt. Die anderen waren gewöhnliche Krieger. Grottenschrate waren keine dummen Lebewesen. Sie konnten einen Adligen sehr wohl von einem Bürgerlichen unterscheiden, und obwohl Elfen der Drow ihre Familienin- signien nicht sichtbar trugen, zeigten ihnen der auffällige Schnitt seines steifen weißen Haares mit dem Zopf und das charakteristische Muster der purpurfarbenen und roten Linien auf seinem schwarzen Piwafwi deutlich genug, wer er war. Die Dringlichkeit seiner Mission lastete auf Dinin, aber er konnte die Mißachtung durch die Grottenschrate nicht ignorieren. Wie schnell wären sie wohl aus dem Weg gesprungen, wenn er ein Mitglied des Hauses Baenre oder eines der anderen sieben herrschenden Häuser gewesen wäre, fragte er sich. 'Ihr werdet sehr bald Respekt vor dem Hause Do'Urden lernen!' flüsterte der Dunkelelf leise. Dann wandte er sich um und rempelte die Gruppe mit seiner Eidechse an. Die Grottenschrate flüchteten, wobei sie in eine mit Steinen und Schutt bedeckte Straße einbogen. Dinin fand seine Befriedigung, indem er die angeborenen Kräfte seines Volkes anrief. Er ließ eine - sowohl für Infravi- sion als auch für normale Sehkraft undurchdringliche - Kugel der Dunkelheit in den Weg der fliehenden Wesen rollen. Er wußte, daß es unklug war, solche Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen, aber einen Moment später, als er laute Flüche hörte, während die Grottenschrate blind über die Steine stolperten, dachte er, daß es das Risiko wert gewesen war. Da sein Rachedurst nun vollauf befriedigt war, ritt er weiter, wobei er sich einen sichereren Weg durch die Hitzeschatten suchte. Als Mitglied des zehnten Hauses der Stadt konnte Dinin ungehindert innerhalb der riesigen Höhle umhergehen. Aber die Oberin Malice hatte deutlich erklärt, daß sich niemand, der mit dem Hause Do'Urden in Verbindung stand, in der Nähe des Pilzwäldchens sehen lassen sollte. Man sollte die Oberin Malice, Dinins Mutter, zwar nicht reizen, aber es war immerhin keine Regel. In Menzoberranzan dominierte nur eine Regel über all die unbedeutenden anderen: Laß dich nicht erwischen. Am südlichen Ende des Pilzwäldchens fand der ungestüme Drow, was er gesucht hatte: eine Gruppe von fünf riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Säulen, die in ein Netzwerk aus Kammern eingelassen waren und mit Metall- und Steingeländern und Brücken verbunden waren. Rotleuchtende Wasserspeier, das Wahrzeichen des Hauses, starrten wie stumme Wachposten von hundert festen Stellungen herab. Dies war das Haus De Vir, das Vierte Haus von Menzoberranzan. Eine Palisade aus hohen Pilzen schloß den Platz ein, von denen jeder Fünfte ein Schreier war, ein empfindendes Schwammgewächs, das nach den grellen Alarmschreien benannt (und als Wächter bevorzugt) wurde, die es ausstieß, wann immer ein lebendes Wesen an ihm vorbeiging. Dinin blieb in sicherer Entfernung, weil er keinen der Schreier animieren wollte und weil er außerdem wußte, daß andere, tödlichere Wächter die Festung beschützten. Die Oberin Malice würde sich ihrer bedienen. Erwartungsvolle Stille durchdrang die Luft dieses Stadtgebietes. In ganz Menzoberranzan war allgemein bekannt, daß die Oberin Ginafae des Hauses De Vir die Gunst von Lloth, der Spinnenkönigin, Göttin aller Drow und wahre Quelle der Stärke jeden Hauses, verloren hatte. Solche Umstände wurden unter den Drow niemals offen besprochen, aber jeder, der davon wußte, erwartete unbedingt, daß irgendeine Familie, die in der Hierarchie der Stadt weiter unten angesiedelt war, bald gegen das geschwächte Haus De Vir vorgehen würde. Die Oberin Ginafae und ihre Familie hatten als letzte von der Verstimmung der Spinnenkönigin erfahren - dies war schon immer Lloths unaufrichtige Art gewesen -, und Dinin konnte bereits bei der Betrachtung der Fassade des Hauses De Vir feststellen, daß die zum Tode verurteilte Familie nicht genügend Zeit gefunden hatte, geeignete Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen. De Vir besaß fast vierhundert Soldaten, viele davon Frauen, aber jene, die Dinin jetzt auf ihren Posten entlang der Palisade sehen konnte, erschienen ihm nervös und unsicher. Dinins Lächeln wurde zunehmend breiter, als er an sein eigenes Haus dachte, das täglich unter der geschickten Führung der Oberin Malice an Macht gewann. Da alle seine drei Schwestern bald den Status von Hohepriesterinnen einnehmen würden, sein Bruder ein fertig ausgebildeter Zauberer und sein Onkel Zaknafein der beste Waffenmeister in ganz Menzoberranzan war, der die dreihundert Krieger hervorragend ausbildete, hatte das Haus Do'Urden vollkommene Macht. Und die Oberin Malice besaß, anders als Ginafae, die volle Gunst der Spinnenkönigin. 'Daermon N'a'shezbaernon', murmelte Dinin leise, womit er die formelle und angestammte Bezeichnung des Hauses Do'Urden gebrauchte. 'Das Neunte Haus von Menzoberranzan!' Er mochte den Klang dieser Worte.

Parameter

ISBN
9783442245628
Verlag
Blanvalet

Kategorien

Buchvariante

1992, paperback

Buchkauf

Wir benachrichtigen dich per E-Mail.